Ganganalyse und Operationen

Justin, voll verdrahtet...
Justin, voll verdrahtet...

Das heutige Thema dreht sich ganz um meinen Sohn...

 

Im letzten Blog hatte ich kurz erwähnt, dass in den Pfingstferien eine weitere Ganganalyse in der orthopädischen Universitätsklink ansteht. Dieser Termin fand am Donnerstag letzter Woche statt.

 

2008 fand im Rahmen einer Studie, die neben den umfassenden operativen Eingriffen zusätzliche drei Ganganalysen umfasste, nach der ersten Auswertung eine sogenannte Umstellungsostheotomie statt. Dies bedeutete im Falle meines Sohnes, dass seine Oberschenkel beidseits oberhalb seiner Knie vom Knochen komplett durchtrennt wurden, damit seine Beine begradigt werden konnten.

Aus dem Oberschenkelknochen wurde jeweils ein Zentimeter Knochen abgesägt. Aus diesem Knochenstück wurde ein Keilstück herausgearbeitet und in seine Füße eingesetzt. Beide Füße wurden während dieser Operation mehrfach gebrochen und neu aufgerichtet. Um seine Fußknochen zu stabilisieren für die folgenden Wochen, wurden diese "verdrahtet". Die Endstücke dieser Drähte, ragten aus seinem Fleisch und seiner Haut heraus. Diese Drähte wurden nach gut sechs Wochen gezogen.

Ohne Sedierung, entgegen aller Absprachen.

Ich war bei meinem Sohn, hielt ihn, während mein Sohn sich die Seele aus dem Leib schrie und das Blut aus seinen Wunden nur so floss. Die Drähte aus seinen Füßen wollten sich einfach nicht lösen. Angeblich würde solch eine Entfernung der Drähte keine Schmerzen verursachen. Justin redete nach dieser Entfernung tagelang kein Wort mehr mit mir.

Wollte erneut nichts mehr essen. Seinen ganzen restlichen Babyspeck verlor Justin in der Zeit nach der Operation komplett. Er war damals 11 Jahre alt. Während der Operation wurden neben den erst genannten beiden Varianten, aber auch seine Wadenmuskulatur beidseits verlängert.

 

Meinen Sohn in den Operationssaal zu verabschieden – der blanke Horror! Die bis dahin längsten Stunden meines Lebens brachen an, während ich auf ihn wartete. Meine Schwester war zur Unterstützung bei mir während dieser surrealen Stunden des Wartens. Im Aufwachraum durfte ich meinen Sohn nach über sechs Stunden begrüßen.

Unendlich klein und weiß im Krankenbett liegend, mit einem warmen Gebläse unter seiner Decke. Völlig ausgekühlt und zitternd. Vollgepumpt mit Schmerzmedikamenten versuchte er mir ein tapferes Lächeln zu schenken. Sich immer wieder übergebend, trotz entsprechender Medikamentation. Seine Beine steckten bis zur Hüfte in einer Spreizschale.

 

Kaum auf dem Zimmer angekommen, wurde Justin frisch gemacht und umgezogen. Seine Blässe nachwievor zutiefst erschreckend. Ich wohl kaum weniger blass. Die erste Nacht verbrachte ich bei Justin auf seinem Zimmer. Schlaf fand ich keinen in dieser Nacht. Die ersten Spastiken suchten Justin wenige Stunden nach der Operation heim. Lösten Panik in ihm aus. In mir nicht weniger. Wenn ich meine Hand auf seine Beine legte, die zu diesem Zeitpunkt sehr warm waren, konnte ich all seine Muskeln unkontrolliert zittern und beben fühlen. Über einen Schmerzkatheter, der direkt in sein Rückenmark führte, bekam er ein entsprechendes Medikament verabreicht, welches ihm Linderung brachte. Aber die Zeit bis dieses Medikament jeweils wirkte – Hölle!

 

Durch die Gipsversorgung bildeten sich innerhalb der ersten Tage drei Dekubituse an seinen Füßen. Ende April fand diese Operation statt - im September waren die Dekubituse erst vollständig verheilt. Die Versorgung der Dekubituse übernahm ich nach und nach bereits während der anschließenden Reha. Sechs Wochen blieb ich zusammen mit Justin in der Heidelberger Uni-Klinik. All seinen granteligen Frust, ließ Justin in dieser Zeit vehement an mir aus. Während er zu anderen meist lieb war. Er nahm ordentlich ab während dieser Zeit. Sprach lange Zeit nicht mit mir. Wobei er ohnehin nicht richtig sprechen kann. Er war berechtigterweise von vielem genervt.

 

Ich war froh, dass ich mir im Elterntrakt ein Zimmer hatte anmieten können für die Zeit in der Klinik. Froh, meinem Sohn für einige Stunden in der Nacht entfliehen zu können.

 

Justin musste die folgenden Monate die meiste Zeit auf dem Bauch liegen, da diese Position dem Stehen am nächsten kommt. Die Dauer seiner Sitzeinheiten wurden strengstens kontrolliert und nur nach und nach langsam erhöht, damit seine Muskulatur nicht erneut verkürzte.

Ein typisches Problem für einen Spastiker, neben vielen Gelenkproblemen und zusehends verformten Gliedmaßen. Ein Stehständer gehörte für die kommenden Monate zum Equipment. Liess seine Füße anfänglich in seiner Gipsversorgung gigantös anschwellen, während des Stehens im Ständer. Das Laufen musste er nach und nach neu erlernen. Aber er hatte zum ersten Mal gerade Beine in seinem Leben. Ein Fußgewölbe.

 

Seine anschließende sechswöchige Reha brachen wir ab. Verlängerung verweigerte ich. Einfach weil wir beide nicht mehr konnten. Wir wollten nach über drei Monaten Klinikalltag endlich wieder nach Hause. Justin aß mir dort immer weniger, ich konnte auf der Matratze, die abends in seinem Reha - Zimmer aufgebaut wurde, nicht mehr schlafen. Ein Zimmer, dass wir uns mit einem extrem schnarchenden Jungen teilten. Privatspäre gab es während dieser Zeit nicht. Endlich Zuhause, konnte ich Justin mit allem bessere Rehamöglichkeiten bieten.

Er aß wieder vernünftig, ließ sich besser auf sein tägliches Krankengymnastikprogramm ein, bekam täglich Lymphdrainage von mir und vieles mehr. Enge Verlaufskontrollen in Heidelberg gehörten dazu. Orthesen für Tags und für Nachts. Stehständer, Rollator, vermehrt Rollstuhl, Medikamente um die Spastiken zu kontrollieren. Alles in allem war es eine sehr anstrengende Zeit. Anders anstrengend wie die Jahre zuvor. Extrem anstrengend...

 

Nach ersten Erfolgen setzte ab Oktober die Ernüchterung ein. Justin hatte zusehends Schmerzen im linken Bein. Eine Röntgenaufnahme ergab, dass die Schrauben im linken Bein den Muskel reizten. Platten konnten aber auch nicht entfernt werden, weil der Knochen noch zu instabiel war. Ich war verzweifelt, zweifelte an allem. Und war so müde von allem...

 

Im Februar fand die zweite Ganganalyse statt. Trotz der Schmerzen und den entsprechenden Rückschritten, war anhand der Bilder ganz klar zu sehen – mein Sohn hatte enorme Fortschritte gemacht! Das schenkte Hoffnung. Für den 16. März 2009 wurde vereinbart, dass das Metal aus seinen Oberschenkeln entfernt wird und seine Oberschenkelmuskulatur teilweise versetzt werden wird. Erneut wurde seine Wadenmuskulatur verlängert, seine Hüftadduktoren beidseits verlängert. Alles in allem, hat mein Sohn über zwei Meter Narben an seinen Beinen. Narben wachsen bei einem Heranwachsenden mit...

 

Diesmal brauchten wir nur 10 Tage in der Klinik bleiben und auf Grund dessen, dass ich das Vertrauen der Ärzte in meine Fähigkeiten als Löwenmamma genoss, brauchten wir keine Reha zu machen, da wir den größten Reha - Erfolg offensichtlich vor Ort und Zuhause erzielten.

Von seiner Operation erholte mein Sohn sich erstaunlich rasch und holte schnell auf. Ihn gerade stehen und laufen zu sehen – ein unbeschreiblich schönes Gefühl! Dieser Stand hielt sich leider nicht, da mein Sohn mental zu stark eingeschränkt ist und kaum in der Lage ist, sich körperlich selbst zu kontrollieren. Aber die Operationen, erhielten ihm bislang dauerhaft seine Lauffähigkeit, wenn auch stark eingeschränkt.

 

2011 fand die dritte, zufriedenstellende Ganganalyse im Rahmen der Studie statt. Die jetzige, die vierte, fand im Rahmen einer Doktorarbeit statt. Anhand der Auswertung wird sich auch die Frage nach seiner neuen Orthesenversorgung klären. Leider wird uns diese erst im Herbst zur Verfügung stehen.

 

So eine Orthese ist nicht unbedingt bequem zu nennen. Sehr starr vom Material und umfasst den Fuß meines Sohnes komplett. Wobei die Orthesen der letzten Jahre schon kleiner wurden.Sie gingen anfangsnach den Operationen, bis hoch zum Knie. Um solch eine Orthese herzustellen, ist ein Gipsabdruck von Nöten und erfordert viel Geduld und Ausdauer für die Betroffenen. Da viele von den Betroffenen oft über Wahrnehmungsstörungen der unterschiedlichsten Art leiden - oft eine Tortur für sie. Zum Anpassen und letztendlichen Druckfreien Tragens, sind meist mehrere Termine in der Werkstatt nötig. Dafür fahren wir mehrere hundert Kilometer jeweils. Heidelberg ist aber auch mit eine der besten Anlaufstellen für ICP-Patienten. Diese Orthesen kann mein Sohn mittlerweile nur noch wenige Stunden am Tag tragen, da seine Haut dies nicht länger mitmacht. Seine Haut, die ohnehin sehr empfindlich ist und schnell zu Reizungen und Druckstellen neigt. Also trägt mein Sohn auch Schuhe mit Einlagen. Auch nicht unbedingt angenehm. Aber was muss, dass muss...

 

Weitere Operationen werden auf meinen Sohn zukommen – aber jetzt hoffentlich noch nicht...

 

Ich wünsche meinem Sohn so sehr, dass er mit weniger Schmerzen durchs Leben gehen könnte. Er hat jeden Tag Schmerzen! Und ist dennoch, mit all seinen Macken und Handicaps, zu einem unglaublich tollen jungen Mann herangewachsen...

Euer Frollein Wunderfein

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