IV

 

 Dieses Gerüst wird von mir am Samstagmorgen weiter aufgebaut, um mich innerlich zu stützen und die Ohnmacht in mir aufzufangen.

Es ist mir noch immer unbegreiflich, dass ich Krebs haben sollte, dass ich tatsächlich schwerkrank bin. Die mir so wichtige Gewissheit der vergangenen Jahre ist mir brutal genommen worden: „Solange ich gesund bin, kann ich uns tragen und uns einen guten Weg schenken!“

 

Ich rufe eine Freundin an, die gleichzeitig meine Versicherungsvertreterin ist und informiere sie über die Diagnose. Susanne kommt nachmittags zu uns Nachhause und gemeinsam prüfen wir, welche Änderungen an meinen Versicherungen vorgenommen werden müssen, welche für eine gewisse Zeit ruhig gestellt werden können, um uns damit einen kleinen finanziellen Spielraum zu ermöglichen.

 Es beruhigt mich gewisse Dinge scheinbar in der Hand zu haben und organisieren zu können. Die kommenden Tage werden in ähnlicher Weise angefüllt sein. Gerade weil ich Single Mama bin überlege ich mir, wer alles informiert sein muss in Bezug zu Justin und uns gegebenenfalls entsprechende Unterstützung leisten kann. Ich möchte das mein Kind in dieser vor uns liegenden und sicherlich alles abverlangenden Zeit, bestmöglich aufgefangen wird. Gespräche mit Justins Lehrern und Betreuern in der Schule, Justins Busfahrern und Begleitern, seinen Therapeuten und soweit nötig seinen behandelnden Ärzten und der Lebenshilfe, nehmen in den kommenden Tagen viel Raum ein. Ich besorge Anträge bei der Krankenkasse für Haushaltshilfe usw. Die Bestürzung auf den Gesichtern meiner Gesprächspartner zu sehen, war nur schwer auszuhalten. Galt ihre Bestürzung mir. Aber die Unterstützung für Justin war mir gewiss. Und das war für mich in diesem Moment sehr wichtig, schenkte mir ein Stück weit Gelassenheit, da mir die Sorge, wenn ich mich in Folge der Behandlung nicht um Justin werde kümmern können, mein Bub aufgefangen sein wird.

 Justin versuche ich an diesem Wochenende erstmals darauf vorzubereiten, dass sich in den kommenden Monaten einiges verändern wird auf Grund dessen, dass seine Mama krank ist und das er dies auch sehen wird. Das seine Mama ihre Haare verlieren und wie manche Männer mit einer Glatze durchs Leben spazieren wird. Es ist schwer zu sagen, wie weit mein Sohn die anstehenden Veränderungen in diesem Augenblick verstanden hat. Er spürte meine Angst, meine Unsicherheit. Tränen wurden gemeinsam geweint bei der Aussicht, dass seine Mama in ein Krankenhaus gehen muss, um gesund zu werden. Justin weiß selbst nur zu gut was es bedeutet in einem Krankenhausbett zu liegen und Schmerzen aushalten zu müssen.

 Nichts war mehr wie zuvor, unser ganzes Leben zum Stillstand gekommen, auf brutale Art und Weise ausgebremst. Einfach so, von eben auf jetzt. Ich hielt meinen Sohn mit klopfendem Herzen so oft als möglich in meinen Armen, versprach ihm mit meinem ganzen Sein gesund zu werden und versuchte alle Zweifel, dass dies anders sein könnte, in mir zu ersticken.

 

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 Montagvormittags stand der Termin in der Brustambulanz an. Im Wartezimmer saßen mit mir zwei weitere Frauen, beide älter als ich. Mit eine Mal tänzelte eine ältere Frau in den Raum und trällerte singend zu ihrer wartenden Freundin, dass sie hundert Jahre werden könne, da bei ihr alles in Ordnung sei, sie keinen Brustkrebs hätte. Darauf erwidere ich: „Schön für Sie, ich leider nicht, ich habe bösartigen Brustkrebs!“ Stille. Die beiden Damen verlassen peinlich berührt den Raum. Die zweite Wartende spricht mich an. Das sie mich vom Sehen kennt, wir Nachbarinnen sind. Sie sich schon bei meinem Eintreten dachte, dass mit mir nicht alles in Ordnung ist, da sie mich nun zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit im Brustzentrum antrifft. Sie erzählt mir, dass sie zwei Jahre zuvor die Diagnose Brustkrebs erhielt, keine Chemotherapie durchlaufen musste und sich hauptsächlich in Heidelberg behandeln ließ. Das ich nicht glauben solle, mit der Diagnose Brustkrebs unbedingt sterben zu müssen. Sie erzählt mir, dass sie ursprünglich aus Russland kommt, bereits zwei Kinder im Erwachsenenalter hätte, beide studieren und lange nichts von ihrer Erkrankung wussten, da sie diese nicht unnötig belasten wollte. Es ihr unglaublich leid tut, dass es ausgerechnet mich getroffen hätte. Sie mich häufiger mit meinem Sohn unterwegs sieht und weiß, dass ich alleinstehend bin. Mein Junge, mit den großen Schwierigkeiten im Alltag. Sie selbst sei hier wegen einer routinemäßigen Kontrolle, wollte sich nur Unterlagen abholen. Sie wünscht mir alles Gute und viel Glück, als ich ins Behandlungszimmer gebeten werde. Beides werde ich wohl gut gebrauchen können.

 Frau Dr. G fragt mich als erstes, wie ich das vergangene Wochenende verbracht habe und ob ich bei meiner Entscheidung bezüglich neoadjuvanter Chemotherapie, verbleiben möchte?

 Ich habe so viele Fragen an sie, von denen mir viele nicht beantwortet werden. Es heißt nur immer wieder auf meine ängstliche Frage, ob ich nun sterben müsse, dass ich diese nicht zu haben bräuchte. Tatsächlich aber sterben Frauen doch an Brustkrebs und das Teilweise in sehr kurzer Zeit? Für den Moment hört sich manches gut an was sie mir beschwichtigend zu erzählen versucht, aber warum werden mir die entsprechenden Zusammenhänge nicht erklärt, die mir das Verstehen erleichtern würden? Für mich ist im Moment alles eine neue Sprache, eine Fachterminologie, die mir nicht im Geringsten vertraut ist.

 

 Ich gehöre von eben auf jetzt zu den Menschen, die alles zwei- und dreimal erklärt haben wollen. Bin von der Seite der Gesunden in ein Niemandsland gewechselt, in dem mir alles unbekannt und fremd erscheint. Mir zu sagen, dass ich mir nicht zu viele Gedanken machen solle, fühlt sich an, als wenn ich mich auf Blindflug begeben solle. Das ist nicht meine Art mit Herausforderungen umzugehen. Autonomie ist mir wichtig, gerade jetzt nochmal so sehr.

 

 Auf Grund dessen, das die Tumore in der Mammographie nur schwer und vage zu finden sind, möchte sie eine weitere Mammografie vornehmen lassen. Diesmal mit einer Nadel im Gewebe. Sie würde meine Brust erneut betäuben und mir dann die Nadel einer Spritze in die Nähe des größeren Tumors einführen und mich so zur erneuten Mammographie schicken, angemeldet sei ich dort bereits. Gesagt, getan. Mit einem schicken OP - Hemdchen bekleidet, ging es für mich anschließend von der Brustambulanz zu einer weiteren Mammographie im Haus. Ich fühlte mich auf dem Weg zur Radiologie wie in einem falschen Film.

 Die Radiologin staunte nicht schlecht, als sie meine Brust mit der Nadel in ihr sieht. Ich bin selbst erstaunt darüber, was diese so alles auszuhalten vermag. Aber nun war das entsprechende Tumorgebiet in der Mammographie leichter ausfindig zu machen als zuvor. Zurück in der Brustambulanz erklärt mir Frau Dr. G, dass ich folgende Dinge in den nächsten Tagen zu erledigen hätte: Thorax-Aufnahme, Oberbauch-Sonographie, Herzecho, Knochenszintigramm. Diese Voruntersuchungen könnte man zwar im Haus erledigen, aber es wäre vorteilhafter, wenn ich sie im Vorfeld erledigen würde.

 Als Einweisungstermin in die Klinik, wird mir der 26. Mai genannt, an dem unter anderem die Untersuchung bezüglich der Wächterlymphknoten stattfinden wird. Die Operation wird einen Tag später erfolgen, bei der mir unter anderem ein Port eingesetzt wird. Dieser Port wird an meinem Schlüsselbein in eine Arterie gepflanzt werden, über den zukünftig die Chemotherapien fließen werden. Die Operation der Wächterlymphknoten ist nötig, da es unter einer neoadjuvanter Chemotherapie passieren kann, dass sich von Krebszellen befallene Lymphknoten nach einem erfolgreichen Therapieverlauf nicht mehr auffinden lassen. Für den Tag nach der Operation, ist die erste Chemotherapie geplant. Zwei Monate später sollten die Tumore per Clip markiert werden, da sich diese unter der Chemotherapie ebenfalls komplett zurück entwickeln können und das Tumorbett somit nicht mehr nachweisbar sein könnte. In solch einem Fall ist es aber dennoch wichtig, das umliegende Gewebe zu entfernen und pathologisch auszuwerten, um ein mögliches Rezidiv zu vermeiden.

 Am Mittwoch den 19. Mai, würden die restlichen Untersuchungsergebnisse (genannt Histologie) der Tumore bereitstehen und innerhalb einer Tumorkonferenz, alles weitere für mich beschlossen werden. Wichtig sei nun, dass ich die nötigen Untersuchungen alle vornehmen lasse und Mittwochs in der darauffolgenden Woche, pünktlich zur Aufnahme in der Klinik anwesend sei.

 

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 Ich fahre mit dem Gefühl nach Hause, nichts verstanden zu haben und bin mit der Aufgabe bezüglich der gewünschten zusätzlichen Untersuchungen, völlig überfordert. Zum Glück vertraute mir meine Frauenärztin Frau Dr. P in der vorangegangenen Woche ihre private Telefonnummer an, da sie in dieser für mich entscheidenden Woche Urlaub hatte mit der Versicherung, dass ich sie jederzeit anrufen dürfe, wenn ich Fragen hätte oder ihre Unterstützung benötigte.

 Der Zeitpunkt schien mir nun gekommen zu sein. Ich gab Frau Dr. P einen Umriss der Geschehnisse der letzten Tage und der an mich gestellten Aufgabe von Frau Dr. G. Ich solle mir keine Gedanken machen, sie wird sich um alles kümmern und mich baldmöglichst zurückrufen um mir genaueres mitzuteilen, versichert mir meine Ärztin am Telefon.

 Frau Dr. P erklärt mir darüber hinaus, aus welchem Grund diese Untersuchungen vorgenommen werden. Es gilt auszuschließen, das der Krebs bereits gestreut hat, sich unter Umständen Metastasen in meinem Körper gebildet haben. Wie zum Beispiel in meinen Knochen, meinen inneren Organen wie der Leber und Lunge, in die der Brustkrebs bevorzugt Metastasen bildet. Mein Herz sollte von einem Kardiologen untersucht werden und während der Chemotherapie ebenfalls mehrfach kontrolliert werden, um Schädigungen an diesem auszuschließen und zu ersehen, ob dieses für die Chemotherapie überhaupt stark genug ist, die kommende Belastung durchzustehen.

 Ich weiß nur zu gut, sollten tatsächlich Metastasen in meinem Körper nachgewiesen werden, würde es den Verlauf der Erkrankung und somit eine mögliche Prognose, für mich gravierend verschärfen. Und eine Heilung nahezu ausschließen.

 Wenig später ruft mich Frau Dr. P an und nennt mir für Mittwochvormittag in einer Radiologie, und Freitagnachmittag bei einem Internisten in der Stadt, die entsprechenden Termine. Über die Überweisungen solle ich mir keine Gedanken machen, die würde sie laut Vereinbarung mit der Anmeldung nachreichen lassen.

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 Im Internet lese ich genaueres über die Art der anstehenden Untersuchungen an, die auf mich zukommen werden, vor allem über die Sentinel-Lymphknoten-Biopsie. Bei allem begleitet mich das Gefühl, dass ich von vorneherein von einer schlechten Startposition in den Lauf starte. Mir steht das G3 im Sinn. Bösartig. Still lese ich in den Internetforen das Schicksal betroffener Frauen. Lese über ihre Erfahrungen, mit welchen Einschränkungen sie während ihrer Chemotherapie zu kämpfen hatten und wie sie in dieser Zeit für sich Linderung fanden. Welche Schrecknisse werden in dieser Zeit auf mich zukommen?

 

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 Mein Erleben beginne ich in diesen Tagen innerhalb einer sozialen Community, als Blog zu verfassen. Gebe dem Grauen in mir auf diese Art und Weise einen Namen. Es gelingt mir dadurch meine Angst ein wenig in den Griff zu bekommen, lasse den Menschen denen ich Einsicht erlaube, Anteil am Geschehen nehmen und bringe sie auf den neuesten Informationsstand, da es mir nicht möglich ist jeden einzelnen zu informieren.

 Zuhause steht in den letzten Tagen das Telefon nicht mehr still. Alle mit denen ich rede sind fassungslos, viele am Weinen. Wollen erklärt bekommen, was ich doch selbst noch nicht verstehe. Tränen um mich, von denen ich kaum weiß, wie ich sie trocknen soll. Wie Trost spenden oder die Frage aller Fragen beantworten: "Warum ausgerechnet du?" "Du hast doch schon mehr als genug mitgemacht!“ Aber auch: "Wenn es eine schafft, dann du!" "Das ich doch eine Aufgabe hätte, nicht sterben dürfe, nicht einmal daran DENKEN solle!"

 Ich hingegen denke mir, dass das Leben nicht danach fragt, dass ich eine Lebensaufgabe in Form meines Kindes habe oder noch so jung bin. Nein, ganz sicherlich nicht. Dafür sterben zu viele Menschen, die im Leben stehen ungefragt mit all ihren Träumen, Hoffnungen, Aufgaben und Wünschen. Ganz gleich ob durch eine Erkrankung oder einen Unfall. Viele dieser Anrufe erhalte ich abends mit meinem Sohn im Hintergrund, der die Anspannung spürt und vor lauter Angst bei diesen Telefonaten zu weinen beginnt. Das kostet mich zu viel Kraft merke ich schon bald und der Preis für meinen Sohn, ist mir eindeutig zu hoch.

 Ich vereinbare mit meiner Mutter, dass sie als Sprachrohr zur Familie fungiert und alles an neuen Informationen weitergibt. Das mir bitte niemand böse ist, wenn ich derzeit keine Anrufe entgegen nehmen möchte, ich werde zu einem späteren Zeitpunkt auf sie zukommen. Ich brauche Ruhe und Kraft um bei mir zu bleiben und um Schritt für Schritt voran gehen zu können.

 Justins Angst aufzunehmen und nicht überhand nehmen zu lassen, ist derzeit eine wichtige Aufgabe. Unseren ganz normalen Alltag zu erleben und weiterhin in ihm zu bestehen. Trotz der Diagnose, uns einen Halt am Vertrauten zu geben. Die Angst wühlt in mir schon groß genug, nimmt mir immer wieder die Luft zum Atmen. Nachts gehen mir die fürchterlichsten Szenerien durch den Kopf und ich befürchte das Schlimmste. Ich halte mich selbst in meinen Armen, um Trost und Wärme zu spüren. Es ist mir bewusst, dass ich jederzeit jemanden anrufen könnte wie mir von mehreren Seiten versichert wurde, aber das ist mir nicht möglich. Ich mag nicht telefonieren in der Nacht, ich mag gehalten und getröstet werden.

 Trost finde ich bei Karlsson, der manchen Abend bei mir verbringt. Der meine Angst um mein Leben und meine verlorene Gesundheit aushalten kann, der mir Wärme und seine Reiki-Kräfte schenkt. Manches Mal ohne Worte. Ich darf weinen und werde gehalten, welch ein Luxus. Karlsson versichert mir seine Unterstützung bei all meinen Vorstellungen, Wünschen und Unternehmungen, damit ich diese ganz eigene Herausforderung, mit aller Kraft angehen kann.

 

 In diesen ersten Tagen nach der Diagnose wird mir schnell klar, dass ich im Leben stehen bleiben möchte. Mir meiner „bewusst“ sein, wie es meine Art ist. Ich bin... Mein Mantra für jeden kommenden Tag, an dem ich mich zu verlieren glaube. Bringe mir in Erinnerung, dass das was ich mir im vergangenen Jahr so mühsam erobert habe, weiterhin Gültigkeit für mich besitzen wird. Ich offen mit „meiner“ Erkrankung umgehen werde, nichts verstecken werde. Das ich das Lachen nicht verlernen möchte, das ich solange es mir möglich ist zu sporteln, mein Yoga als Ausgleich beizubehalten, Reiten, Theater, Konzerte, malen, Bücher, Prosecco - ich die schönen Dinge im Leben weiterhin genießen möchte. Ich möchte Zeit mit meinen Lieben verbringen. Das kostbarste Geschenk, welches man sich nur bereiten kann. Zeit! Und das Wichtigste - meinem Sohn weiterhin Mama sein zu dürfen!

 Karlsson möchte mir zur Unterstützung der Heilung, einen Heilpraktiker ermöglichen. Dass ich mir generell keine Gedanken um finanzielles machen solle in diesem Jahr. Dafür würde er zu gut verdienen und mir gerne davon ein wenig abgeben. Alles was hilft Energien bei mir zu behalten, sei jetzt wichtig. Dieser wunderbare, großzügige Mann ist für mich ein Geschenk des Himmels, mein Engel auf Erden.

 Wir unterhalten uns bis spät in die Nacht über Schicksal, warum es den einen schwerer trifft und ein anderer scheinbar durchs Leben tanzt. Warum der eine den Krebs zu besiegen vermag und der andere elend an ihm zugrunde geht, gleich welchen Alters. So viele wunderbare Menschen. Es hilft mir hinzusehen und den Gedanken versuchen auszuhalten, dass mein Sterben im Raum liegt. Ich weiß für mich, dass es eine wichtige Aufgabe sein wird, den Krebs anzunehmen, mit allen Facetten die er mit sich bringen wird.

 Seit ich die Diagnose erhalten habe, ist es mir nicht mehr möglich, mich bewusst zu berühren. Zu sehr fühle ich mich von meinem Körper verraten. Von meinem "Frausein". Weiß schon jetzt, dass es eine große Aufgabe sein wird, mich neu anzunehmen. Mir neu zu vertrauen. Meinen Körper und meine Seele in Einklang zu bringen, wenn es mir nur erst gelungen ist, dies alles hinter mich zu bringen.

 Zweifel in mir, ob es nicht doch besser ist, die Amputation meiner Brust in Erwägung zu ziehen. Bei dem Gedanken dreht sich mir innerlich alles. Was, wenn dieses zusätzliche Kalkfeld eben doch nicht harmlos ist oder es noch weitere in meiner Brust gibt, die nur nicht erkannt wurden in den vorangegangenen Untersuchungen? Ich fühle mich verunsichert von den ersten Einschätzungen meiner Ärzte und das viele meiner Fragen nicht beantwortet wurden. Wie weit kann ich ihnen vertrauen, wenn es doch erst hieß: "Machen Sie sich keine Gedanken, es macht den Eindruck, als wenn wir es mit gutartigen Veränderungen zu tun haben!", und sich diese Einschätzungen letzten Endes als nicht relevant erwiesen? Schließlich geht es um mein Leben.

 

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 Karlsson versuche ich zu erklären, dass alle hypothetischen Gedankengänge real wurden. Wir wissen alle, das wir sterben müssen, die meisten blenden diesen Gedanken jedoch gekonnt für sich aus - für mich tickt hingegen ab nun laut und deutlich die Uhr. Tick - Tack, Tick - Tack - bete des Nachts um Kraft und Zuversicht...

 Als Kind war ich sehr schwer an rheumatischem Fieber erkrankt. Vor allem mein Herz wurde durch das hohe Fieber durch eine Herzmuskelentzündung stark in Mitleidenschaft gezogen. Ich habe durch diese Erkrankung jedoch auch einen besonderen Blickwinkel auf das Leben gewonnen. Das Gesundheit keine Selbstverständlichkeit ist. Das auch Kinder sterben können und vor allem ich. Damals war ich neun Jahre jung. Heute habe ich Angst den Krebs in mir nicht zu besiegen, weil ich es ja bereits zweimal als Kind geschafft habe, dem Tod erfolgreich von der Schippe zu springen. Ein Gedanke, der mir hilft diese dunklen Stunden zu bestehen, ist der, dass wenn es so sein sollte das der Krebs in mir stärker sein sollte, ich ein gutes Leben hatte. Ein reiches, intensives Leben. Ich mehr habe, als es manch anderem vergönnt war. Mir sind zu viele Kinder bekannt, die jung verstorben sind. Die entweder auf Grund einer Behinderung oder Erkrankung unter schwersten Bedingungen in ihr Leben gestartet sind. Diesen besonderen Kindern standen Mut, Kraft und Liebe zur Seite in ihrem kurzen Leben, wenn sie Glück hatten. Ein kleiner Junge in der Orthopädischen Klinik in Heidelberg, ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Vom Hals abwärts gelähmt, an Beatmungsgeräte angeschlossen, mit einem solch undenkbar blassen und traurigen Gesichtchen und Schatten unter seinen Augen, wie sie zu keinem Kind gehören sollten. "Wie geht es dir jetzt?" frage ich mich noch heute manches Mal.

 

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 Die Termine in der Radiologischen Praxis habe ich hinter mich gebracht mit dem Ergebnis, dass sich keine Metastasen in meinem Körper nachweisen lassen. Ich fühle mich noch immer erschlagen von der Diagnose und kann mich kaum darüber freuen, dass dem so ist. Verena hatte bei ihrer Diagnose ebenfalls keine Metastasen. Also bleib auf dem Teppich der Tatsachen, sage ich mir. Freue dich nicht zu früh, wer weiß was noch alles kommen wird. Aber dennoch, diese erste Runde geht an mich...

 

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 Nachmittags mache ich mich auf den Weg, um meinen Sohn von der Schule abzuholen für eine seiner Therapiestunden, da bricht alles aus mir heraus. Ich schreie meine ganze Not und Pein heraus. Ich bin wie irre, stehe kurz vor dem Hyperventilieren und das alles hinter dem Steuer meines Wagens. Nach dieser befreienden Schreiattacke ist es mir jedoch möglich, die kommenden Stunden scheinbar gelassen durchzustehen.

 

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 Freitags erfahre ich, das mein Herz gesund und stark genug ist, die Chemotherapie zu bestehen. Der Internist Herr Dr. S stellt mir ein Rezept für ein homöopathisches Beruhigungsmittel aus, damit ich den Stress besser bewältigen und auch wieder schlafen kann. Sehr empfehlenswert, solch ein Beruhigungsmittel!

 Mittwochs nach dem Termin in der Radiologischen Praxis, telefoniere ich mit der Brustambulanz, um die Resultate der Tumorkonferenz zu erfragen. Wie sieht der Hormonstatus aus, welche Chemotherapie empfiehlt man mir? Mit meinen Fragen vermittelt meine Ärztin mir den Eindruck, was frage ich als Patientin überhaupt? Wichtiger schien es ihr zu sein, dass ich alle vorrangigen Untersuchungen habe vornehmen lassen. Das Gefühl der Unsicherheit, wird immer größer. Keine gute Ausgangsbasis für die kommenden Wochen. Mein Bauchgefühl schlägt Alarm. Mir wird klar, dass ich dringend eine zweite Meinung von Ärzten benötige. In einem Frankfurter Brustzentrum, welches einen sehr guten Ruf genießt und mir empfohlen wurde, kann ich für die folgende Woche kurzfristig  einen Termin vereinbaren. Zu diesem Termin begleitet mich meine Mutter. Zwei Paar Ohren hören mehr, vor allem da ich aus jüngster Erfahrung gelernt habe, dass man als Betroffene scheinbar nur noch selektiv wahrnimmt. Mich hat dieses Gefühl unter einer Glocke zu sitzen und die Welt um mich herum nur noch verzehrt wahrzunehmen, noch immer nicht verlassen.

 

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 Zu diesem Termin empfangen mich gleich mehrere Ärzte. Oberarzt Herr Dr. H, Oberärztin Frau Dr. M und eine junge Assistenzärztin.

 Erneut erzähle ich die Anamnese meiner Geschichte und von meinen Erlebnissen, der vergangenen Wochen. Ein weiteres Mal erfolgt eine Ultraschalluntersuchung. Der zweite Tumor wird biopsiert.

 Grundsätzlich sind die Ärzte in der Frankfurter Klinik der gleichen Meinung, wie meine Ärzte in Unterfranken. Um eine Chemotherapie werde ich nicht herumkommen. Nach Auswertung der Unterlagen und des Ultraschalls wird mir eine Amputation nicht angeraten. Das sich definitiv brusterhaltend operieren lässt. Oberarzt Herr Dr. H erklärt mir den Zusammenhang der pathologischen Auswertung, was mich nun manches besser verstehen lässt. So langsam fange ich an zu begreifen, dass ich vielleicht doch eine reelle Chance habe, den Krebs in mir zu besiegen. Auch wenn ich auf Grund der Tatsache, dass dieser G3 Faktor besteht oder mein Tumor im Elston Ellis Score 8 eingestuft wurde, welche die Überlebensprognosen senken, dass das noch lange nichts zu bedeuten hat. Er macht mir deutlich, dass ich keine Metastasen habe und somit grundsätzlich eine Chance auf Heilung besteht. Das ich nach der Chemotherapie auf Grund des Hormonstatus mit einer Antihormontherapie beginnen werde, die mich auf künstliche Weise von eben auf jetzt in die Wechseljahre versetzen wird, wenn es nicht schon die Chemotherapie tun wird. Ziel ist es, mir durch das Entziehen des Hormons Östrogen die Andockstellen an meinen Zellen zu blockieren, um zu verhindern, dass sich ein neuer Krebs bilden kann. In ruhigen Worten macht er mir ebenfalls klar, dass ich als Patientin die Fragen stellt (zusätzlich dessen, das ich als Brustkrebspatientin recht jung bin), durchaus eine Herausforderung für einen Arzt darstelle, mit der nicht jeder zu meiner Zufriedenheit umgehen wird können.

 Die Ärzte geben mir als Rat mit auf den Weg, mir wie geplant diese Woche in Aschaffenburg den Port implantieren und den Sentinelschnitt vornehmen zu lassen, wie auch die Chemotherapie Namens TAC vor Ort durchzustehen, da diese sehr anstrengend und belastend werden wird. Die Clipmarkierung der Tumore solle ich jedoch gleich vornehmen lassen und nicht warten bis nach der zweiten Chemotherapie, wie von Frau Dr. G vorgeschlagen. Ich werde mit den Worten verabschiedet, dass ich mich mit weiteren Fragen jederzeit an sie wenden könne oder wenn ich mich dazu entschließen sollte, mich in der angeschlossenen Klinik operieren zu lassen.

 Auf der Fahrt nach Hause rekapitulieren meine Mutter und ich das Gespräch. Meine Mutter ist nun wesentlich ruhiger und positiv angetan von Oberarzt Herrn Dr. H. Mein Bauchgefühl gibt ebenfalls Ruhe. Ich denke, ich habe die Klinik gefunden in der ich die eigentliche Tumorentfernung vornehmen lassen möchte. Letztendlich kommen mehrere Faktoren zu meiner Entscheidung zusammen. Die Größe der Klinik und des Brustzentrums = entsprechend mehr Erfahrung. Der persönliche Eindruck, den die Ärzte mir vermitteln konnten + die Empfehlungen, die mir von mehreren unabhängigen Seiten ausgesprochen wurden. Vertrauen in die Ärzte ist vorhanden und das ist wichtig auf solch einem entscheidenden Weg. Und in Bezug zu Ärzten habe ich auf Grund der langen Jahre mit Justin ein gutes Bauchgefühl entwickeln können und gelernt, diesem letzten Endes zu vertrauen.

 

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 Für Justin ist in der Zeit, die ich erstmals in der Klinik verbringen werde, gut vorgesorgt. Mein Sohn wird in der Lebenshilfe in diesen Tagen betreut werden und dort übernachten können. Herr H, ein ehemaliger Schuldirektor und passionierter Künstler aus dem Aschaffenburger Umkreis, hat sich erbeten, alle anfallenden Kosten einer Haushaltshilfe in diesem Jahr, über eine Stiftung begleichen zu lassen. Justins Betreuer aus der Schule haben mich wissen lassen, dass sie neben ihren Aufgaben in der Schule zusätzlich in der Lebenshilfe arbeiten möchten, um Justin möglichst viele vertraute Gesichter zu ermöglichen. Mir stehen Tränen der Dankbarkeit in den Augen, über diese zugesicherte und wertvolle Unterstützung. Dies wird mir in den kommenden Monaten noch häufiger geschehen – Tränen aus Dankbarkeit und aus so vielen anderen Gründen...

 

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 Der letzte Tag vor der Operation, ist ein wunderschöner Frühlingstag. Ich trage meine Haare offen, um den Wind in ihnen zu spüren und die Wärme der Sonne auf ihnen zu fühlen. Ein so sinnliches, wunderbares Gefühl. Ich verwende derzeit viel Pflege auf sie und verwöhne meine Haare. Und nehme Abschied von ihnen.

 Den Nachmittag verbringen wir mit Karlsson in Seligenstadt. Schlemmen ein großes Eis in unserem Lieblingscafé am Hafen. Fahren mit der Fähre über den Main hin und her zum puren Vergnügen für meinen Sohn. Soweit es in Justins Anwesenheit möglich ist, informiere ich Karlsson über den Termin in dem Frankfurter Brustzentrum. Ich genieße diesen Nachmittag in der Sonne, trotz aller Schwere in mir.

 

Kapitel 5

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