VI

 

 Heute ist der 3. Juni 2010, der fünfte Tag mit der Chemo in mir. So langsam scheint die Übelkeit ein wenig nachzulassen und der widerliche Geschmack in meinem Mund verflüchtigt sich endlich. Welch ein Glück. Kaum zu glauben, über was Frau sich freuen kann im Leben.

 Dafür machen sich auf meiner Haut schmerzhafte Entzündungen breit. Von Kopf bis Fuß ziehen sich diese hin. Na toll, denke ich mir! Krebs zu haben macht nicht wirklich hübsch, jetzt kommt auch noch ein Streuselkucheneffekt hinzu. Strecke meinem Spiegelbild die Zunge heraus, die auch irgendwie seltsam ausschaut. Das wirkt alles sehr suspekt und befremdlich auf mich.

 

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 In den Tagen zuvor absolvierte ich einen Termin bei meinem Zahnarzt, der mir manchen Tipp mit auf den Weg gab, um meine Mundschleimhäute vor den gefürchteten Entzündungen unter einer Chemotherapie zu schützen.

 Das ich mir zum Beispiel eine elektrische Munddusche und aus dem Reformhaus ein hochwertiges Sonnenblumenöl besorgen soll, um täglich 7 Minuten mit einem Esslöffel Öl, meinen Mund zu spülen. Das Öl ziehen, dient gleichzeitig der Entgiftung und unterstützt generell die Mundflora. Das ich nicht mehr wie bisher einmal im Jahr eine Zahnreinigung vornehmen lassen sollte, sondern bestmöglichst alle 6 Monate. Für schwere Stunden empfahl er mir ein Buch: „Seneca, der Lebensmeister“. Empfohlen, direkt gekauft und es liegt nun auf meinem Nachttisch zum Lesen bereit.

 

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 Meine Frauenärztin nahm das gewünschte Blutbild von Seiten der Tagesklinik vor, kontrollierte die Wunden, die nicht wirklich toll aussehen, da sie sich meiner Ansicht nach zusehends entzünden und stellte mir wie versprochen ein Rezept für Krankengymnastik aus, sodass ich an diesem ersten Mittwoch nach meiner Operation, direkt mit der Behandlung beginnen konnte. Die Sentinelwunde als auch die Portwunde, sind schmerzhaft geschwollen und sehr heiß. Gefallen mir nicht, trotz der beruhigenden Worte der Ärztinnen, die meine Wunden bislang kontrollierten.

 

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 In Bayern sind derzeit Pfingstferien. Heute ist Fronleichnam und Justin somit zu Hause. Tagsüber wurde er in den letzten Tagen in der Lebenshilfe betreut, mit deren Betreuern er viele Ausflüge unternahm, sodass ich mich ein wenig erholen konnte.

 Meine jüngste Schwester hat sich gemeinsam mit ihrer Tochter zu einem Besuch für heute angemeldet. Welch ein Glück, denn mein Körper scheint mir nicht mehr gehorchen zu wollen. Meine Muskeln fühlen sich sehr seltsam an und über keine Kraft mehr zu verfügen. Ich fühle mich schrecklich hilflos und matt. Ich erledige die allernötigsten Handgriffe im Haushalt. Zu mehr reicht es nicht.

 Mein schlechtes Gewissen meinem Sohn gegenüber, schlägt an diesem Tag einen Purzelbaum nach dem anderen. Justin bekommt mehr als einmal mit, dass ich mich im Bad übergebe. Er ist darüber derart verunsichert und unglücklich, das er jedes mal in Tränen ausbricht, trotz meiner Beteuerungen über der Kloschüssel hängend: „Alles nicht schlimm, alles gut!“

 Dabei möchte ich mich vor lauter Erschöpfung am liebsten in mein Bett verziehen und weinen. Die Tropfen gegen die Übelkeit helfen nicht. Wir haben erst den fünften Tag der Behandlung und ich ahne fürchterliches für den Berg an Therapien, der noch vor mir liegt. Wie soll das Ganze mit uns nur weitergehen und wie soll ich überhaupt diesen Berg erklimmen wenn es mir schon jetzt alles andere als gut geht?

 Justin und ich sind mit unseren Nerven am Ende, als meine Schwester und meine Nichte bei uns eintreffen. Ihre Anwesenheit hilft mir mich so weit zu sammeln, dass wir gemeinsam in die Altstadt fahren können, nachdem ich ausgiebig geduscht habe. Trotz Übelkeit habe ich Gelüste nach einem Stück Torte, welches ich mir in einem beliebten Altstadt Café schmecken lasse und mir erstaunlicherweise gut bekommt. Dabei in der Sonne zu sitzen und ihre Wärme auf meiner Haut zu fühlen, ist ein wunderbares Gefühl.

 Die miteinander verbrachte Zeit tat uns allen gut. Meine Schwester versichert mir, wie sehr sie mich bewundert, wie großartig ich alles durchstehe. Dabei fühle ich mich so etwas von ausgespuckt und alles andere als großartig. Und vor allem schon mal gar nicht bewundernswert. Ich möchte einfach nur gesund sein...

 

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 Karlsson kommt uns am Abend besuchen, der die letzten Tage in seinem Haus in Schweden verbrachte. Für Justin eine Tüte schwedischer Süßigkeiten als Mitbringsel und für mich eine Kette mit einem Anhänger aus Glas. Er ist wunderschön und ganz eigen in seiner Art – er stellt eine Amazone dar. Ich fühle mich wunderbar verwöhnt. Ein ungewohntes und doch sehr angenehmes Gefühl.

 

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 Am Freitag klappt es mit mir und meinen Muskeln schon ein wenig besser und ich bekomme meinen Körper wieder leichter unter Kontrolle. Dafür fühlt sich mein Mund fürchterlich wund an. Ich klingle bei meiner Nachbarin und frage sie um Rat. Sie ist Krankenschwester auf einer gynäkologischen Station. Sie bestätigt meinen Verdacht nach einem Blick in meinen Mund, dass sich eine Mundschleimhautentzündung gebildet hat und verspricht mir eine Lösung aus der Klinik mitzubringen, die mir Linderung verschaffen sollte.

 Mit Justin unternehme ich am Nachmittag eine Tour durch einen ortsnah gelegenen Park. Ich genieße es, dass meine körperlichen Kräfte zurückkehren und das Nahe sein mit meinem Kind. Meinem Sohn kann ich dadurch ein Stück weit Unbeschwertheit schenken. Schlapp machen, gilt nicht – so fühlt sich Liebe an!

 

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 Meine Nachbarin klingelt am Abend wie versprochen an meiner Tür und bringt eine Lösung mit, die ich dreimal täglich gurgeln und zum Abschluss hinunterschlucken soll. Das müsste helfen. Die Lösung schmeckt nicht wirklich gut. Aber auch nicht wirklich schlecht. Hauptsache sie hilft. Als ich an diesem Abend zu Bett gehe, fühle ich mich leicht fiebrig.

 Am Morgen habe ich bereits über 39 Grad Fieber. Scheiße, jetzt auch das noch, was mach ich denn jetzt? Ich fühle mich fürchterlich hilflos und mit den Nerven am Ende. Ich rufe in der Klinik an um zu fragen was zu tun ist. Möglichst sofort kommen, lautet die Auflage. Ich ahne, dass sich meine Leukozyten verabschiedet haben und die Klinik mich nicht wieder nach Hause entlassen wird für das Wochenende.

 Ich versuche verzweifelt Karlsson anzurufen, den ich nicht erreichen kann. Maria hat heute genug zu tun für ihren 50. Geburtstag, als das ich sie um Hilfe bitten möchte. Meine Familie ist mit den Vorbereitungen für einen Ball der Tanzschule des Lebensgefährten meiner jüngsten Schwester vollends ausgelastet, der am Abend nach langen Vorbereitungen in Heidelberg stattfinden wird.

 Susanne gelingt es mir jedoch zu erreichen und sie verspricht umgehend als Kavallerie zu helfen. Die Lebenshilfe rufe ich direkt danach an, erkläre die Situation und das Justin die kommenden Tage erneut bei ihnen einziehen wird müssen.

 Um es kompliziert zu machen kommt hinzu, dass Justin in der folgenden Woche auf Klassenfahrt in ein Schullandheim fahren wird und noch kein Koffer gepackt ist. So gut als möglich packen wir mit Hilfe von Susanne die beiden nötigen Taschen für Justin. Eine für die Lebenshilfe, eine für die Klassenfahrt. Schreibe für die Lebenshilfe, als auch für Justins Lehrer, entsprechende Begleitschreiben. Dennoch sollte nicht alles glatt laufen. Es ließ sich jedoch alles lösen und sollte auch nicht wirklich mein Problem sein. Ich war Schachmatt gesetzt. Während Susanne Justin in die Lebenshilfe bringt nach einer innigen Verabschiedung, suche ich mir das Nötigste für die Klinik zusammen, um bei Susannes Rückkehr startklar zu sein.

 An der Klinik angekommen, lässt mich Susanne an der Notaufnahme aus dem Wagen steigen, damit ich es nicht so weit zum Laufen habe und gehe schon mal vor in die Notaufnahme. Ein um Rat angesprochener Sanitäter gibt mir den Tipp, mich gleich links in der Notaufnahme anzumelden. Im ersten Raum links stehen die Türen offen, Schwestern und Ärzte über einen Patienten gebeugt, ein Arzt an einem Schreibtisch sitzend und telefonierend. Hier bin ich bestimmt nicht richtig, die geladene Energie aus dem Raum haut mich um. Ich sinke auf einen Stuhl im Flur, da ich mich kaum noch auf den Beinen halten kann und warte darauf, dass der Arzt sein Telefonat beendet. Er schickt mich ein Stück weiter den Flur hinunter, dort sei die Anmeldung, er könne mir leider nicht weiterhelfen. Ein ebenfalls wartender Patient begleitet mich an die Anmeldung, da ich mich kaum noch zurechtfinde. In mir schwirrt alles und ich fühle mich mittlerweile völlig desorientiert. Einer Schwester an der Anmeldung erkläre ich, dass ich in der Woche zuvor meine erste Chemotherapie erhalten hätte, seit letzter Nacht steigendes Fieber habe und mich nach telefonischer Rücksprache hier melden sollte, zwecks stationärer Aufnahme. Ich werde gebeten zu warten, bis jemand Zeit für mich findet. Benommen suche ich mir einen freien Platz und versuche alles in mir an Kraft zusammenzuhalten und nicht zusammenzubrechen. Mir gegenüber liegt der erste Raum, in dem ein reges Kommen und Gehen herrscht.

 

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 Zwischenzeitlich betritt ein Mann in dunkler Jeans und Halbarmhemd die Notaufnahme. Er wirkt ruhig, fragt einen Vorübergehenden nach seiner Frau. Der Neurologe mit dem ich zu Anfang sprach, tritt zu dem Mann und teilt ihm erschütterndes mit: Das seine Frau eine Hirnblutung hätte, zwar sehr klein, aber das sie diese nicht operieren könnten, da diese sehr ungünstig gelegen sei. Der Ehemann fragt den Neurologen ob dies bedeutet, dass seine Frau sterben könne? Ja, sehr wahrscheinlich. Wenn er seine Frau sehen wolle, könne er gerne zu ihr. Der Mann verneint. Setzt sich nach dem Gespräch auf einen Stuhl, nur wenige Meter von seiner Frau getrennt. Dieser große Mann wird vor meinen Augen ganz klein und verändert sich auf subtile Weise. Dabei bleibt er weiterhin ruhig und beherrscht. Er nimmt sich eine Zeitschrift in der er blättert, strahlt einen Schmerz aus, der kaum in Worte zu fassen ist. Ich sehe nur rot um ihn. Würde ihm gerne meine Hand auf die Schulter legen. Fühle mich hilflos angesichts seines Unglücks.

 Ich bin fassungslos, dass ich dieses Gespräch auf dem Flur einer Klinik verfolgt habe. Das es kein separates Angehörigenzimmer gibt für solch eine grauenhafte Eröffnung, die einem Menschen in einem Augenblick alles nimmt. Vor den Augen und Ohren aller Wartenden, während im Nebenraum seine Frau um ihr Leben ringt, vermutlich stirbt. Niemand, der da ist nach ihm zu sehen, zu fragen ob man für ihn jemanden verständigen kann. Nur Schmerz!

 Susanne ist kurz darauf da und ich erzähle ihr erschüttert von dem Miterlebten. Wir beide fühlen uns hilflos gegenüber unserem Unvermögen, diesem Mann zur Seite zu stehen.

 Eine Ärztin tritt zu einem Patienten heran, der auf einer Bahre liegt und weckt diesen. Mit sehr lauter Stimme meint sie vermelden zu müssen, dass heute mit längerer Wartezeit zu rechnen sei, da sie eine Hirnblutung zu versorgen hätten. Bei ihm sei ja alles in Ordnung, er könne nach Hause. Mir treten Tränen in die Augen über diese Geschmacklosigkeit und nicht vorhandenem Respekt und Taktlosigkeit von Seiten dieser Ärztin. Wünsche mich an einen anderen Ort, in eine andere Zeit...

 Eine Schwester tritt zu mir und nimmt mich in ein Behandlungszimmer mit, legt mir einen Zugang in eine Armvene, entnimmt Blutproben und schickt mich mit den Unterlagen der Anmeldung auf Station. Dort angekommen, heißt es auf die Blutuntersuchungsergebnisse zu warten, die nichts Gutes verheißen. Meine Leukozyten liegen lebensgefährlich niedrig bei 330 Zählern. Dafür sind die Entzündungswerte extrem hoch. Kein Wunder, dass meine Wunden dermaßen geschwollen und schmerzhaft sind.

 Eine Ärztin auf Station erklärt mir, dass ich in diesem Fall in ein sogenanntes „Umkehrisolierzimmer“ aufgenommen werde, Aufenthaltsdauer ungewiss. Na super, ächzt es in mir. Das Positive daran ist, das ich ein Einzelzimmer bekomme. Besucher und Pflegepersonal dürfen nur in Schutzkleidung zu mir. Infusionen in Form von Antibiotikum und zum Ausgleich des Flüssigkeitshaushalts, stehen für die kommenden Tage auf dem Programm. Ich bin nur noch froh mich in ein Bett legen zu dürfen, abzutauchen aus der Realität und stille Tränen der Erschöpfung weinen zu dürfen und mich um nichts mehr kümmern zu müssen. In den nächsten Stunden fällt und steigt das Fieber, tobt in mir. Susanne nimmt meinen Haustürschlüssel an sich und verspricht mir nach Justin in der Lebenshilfe zu sehen und mich mit dem Nötigsten für die kommenden Tage zu versorgen.

 Es ist schon amüsant zu beobachten, wie sich das Pflegepersonal verkleidet, ehe es zu mir ins Zimmer tritt. Kittel über die Kleidung, Handschuhe, Mundschutz, Häubchen für die Haare. Nur der Arzt, der mir in den kommenden Tagen des häufigeren Blut abnimmt, scheint wohl der Ansicht zu sein, er bräuchte dies nicht zu tun. Lass ihn mal, denke ich mir, der wird dich wohl kaum mit seinen Bazillen umbringen. Blöd von mir. Ich hätte diesem Ignoranten sowas von auf die 12 hauen müssen. Meine rechte Armbeuge sieht dank diesem Arzt schon bald wie ein einziger blauer Fleck aus, von meiner linken Brust mal ganz zu schweigen, die nach all den Biopsien und Nadeln, die sie in den letzten Wochen malträtierten, in allen Farben schillert. Die Infusionen werden mir zum Glück über den Port verabreicht. Der soll ja auch zu etwas gut sein, nicht, dass dieser sich vernachlässigt fühlt.

 

 Am linken Arm ist es nicht mehr gestattet Blut abzunehmen oder gar Blutdruck zu messen, auf Grund der entfernten Lymphknoten. Es gilt in Zukunft ein Lymphödem zu vermeiden. Eigentlich schade, meine guten Armvenen liegen links. Rechts ist die Ausbeute schon nicht mehr so ergiebig. Was solls - es ist wie es ist, sag ich mir wie so oft seit neuestem.

 Ich informiere meine kleine Schwester telefonisch darüber, dass ich in der Klinik liege auf Grund der schlechten Blutwerte und des hohen Fiebers. Versichere ihr, dass dies aber schon wieder werden wird und sie sich keine Sorgen um mich machen sollen und meine Mutter ihre geplante Reise am nächsten Tag nach Berlin, auf keinen Fall absagen darf. Hauptsache, sie ist für sich einmal unterwegs und erlebt etwas Neues und Schönes.

 Ein untröstlicher Karlsson besucht mich am frühen Abend und bedauert es zutiefst, dass er sein Telefon stumm geschaltet hatte und meine Anrufe ihn zu spät erreichten. Er verspricht mir zerknirscht und vielleicht auch eher sich selbst, dass er in Zukunft immer für mich erreichbar sein wird. Er schenkt mir über seine Verkleidungsaktion ein erstes Lachen. Für seinen Haarschutz wählte er kein Häubchen, sondern einen Einmal-Slip. Ein Bild für die Götter. Mit seinem Besuch schenkt Karlsson mir erneut innere Ruhe. Das hohe Fieber hingegen, schenkt mir über das Wochenende fürchterliche Kopfschmerzen und Müdigkeit. Selbst am Tag darauf, einem Sonntag, steigt es immer wieder auf über 39 Grad an. Es kostet mich viel Kraft gegen das Fieber anzugehen. Meine Blutwerte bessern sich nur langsam und das Antibiotikum zeigt somit eine erste Wirkung. In der Nacht von Sonntag auf Montag habe ich schrecklichste Albträume. Sie lassen mich schreiend aus meinem Schlaf aufschrecken. Habe den Mann aus der Notaufnahme und seine im Sterben liegende Frau in meinen Träumen. Herzrasen, tief sitzende Nachtangst, die sich nur schwer in den Griff bekommen lassen. Ich habe fürchterliche Angst vor dem Alleinsein, unterhalte mich mit der Nachtschwester, die sich die Zeit nimmt mich zu beruhigen und mir dabei hilft, die Angst aus meinem Bett zu vertreiben.

 Meine Leukozyten sehen Montagfrüh schon wieder ganz gut aus, kletterten fleißig auf über 1100 Zähler. Die Entzündungswerte liegen dafür noch immer bei über 100 Zählern. Ehe sie nicht unter 50 liegen, kann das intravenöse Antibiotikum nicht auf oral umgestellt werden und ich somit nicht nach Hause. Es heißt weiterhin, sich in Geduld zu üben. Vormittags bei der Ärztevisite werde ich gefragt, warum ich nach der Chemotherapie keine Neulasta-Spritze und Antibiotikum bekommen hätte? Ganz einfach: "Weil ich von diesen Medikamenten nichts wusste.!?"

 Ich erinnere die Ärzte daran, dass weder ich noch meine Frauenärztin, einen entsprechenden Arztbrief erhalten haben, da dieser bei meiner Entlassung nicht fertiggestellt war. Und woher soll ich wissen, was für mich alles nötig ist nach einer ersten Chemotherapie oder worauf ich zu achten habe ohne diesen? Für mich ist derzeit alles neu und unbekannt!

 Habe ich grundsätzlich etwas falsch gemacht, was kann ich zusätzlich tun, damit ich die folgenden Chemotherapien besser vertrage, lautet meine Frage an diesem Vormittag. Grundsätzlich habe ich nichts falsch gemacht. Ich dürfte auch weiterhin reiten, dass Striegeln sollte ich eventuell unterlassen (es hieß aus dem persönlichen Umfeld, dass ich das Reiten doch mal besser lassen sollte, weil es zu gefährlich für mich sei), selbstverständlich dürfte ich weiterhin Blumen in meiner Wohnung halten (das war auch so ein Tipp aus meinem persönlichen Umfeld), mein Sohn würde schon mehr als genug Keime mit nach Hause bringen, als das ich mich vor allem werde schützen können. Das leuchtet mir ein. Ich werde darüber informiert, dass auf Grund der Aggressivität der Chemotherapie, die bis in das Rückenmark einwirkt, dringend diese Neulasta-Spritze empfohlen wird, um das Leukozyten Depot nach jeder Chemoeinheit neu aufzubauen.

 

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 Mittags schaut die Psychoonkologin bei mir vorbei. Sie hilft mir, einen Gedanken zu reflektieren, der sich in den vergangenen Wochen kristallisierte. Für mich fühlt sich der Gedanke so klar an, dass das vergangene Jahr mit all seiner Müdigkeit in mir und dem Suchen nach einem neuen Anfang, nach all der Zeit der Zerrissenheit und der Anspannung um meinen Sohn, eine Vorbereitung auf dieses Jahr war. Der Krebs sich in dieser Zeit bereits in mir regte, meinen Körper ausbremste um nicht wieder wie für mich üblich, neue Aufgaben zu stemmen.

 Das ich das vergangene Jahr als den Beginn und einen wichtigen Grundstein meiner Heilung ansehe. Das ich sehr dankbar für all das Neue bin, das mir im vergangenen Jahr begegnete. Dankbar, nicht im vergangenen Jahr die Diagnose Brustkrebs (eine gut verständliche Übersicht über die wichtigsten Brustkrebsarten) erhalten zu haben, in dem ich lange Zeit so unendlich kraftlos war. Wie hätte ich mich dem Krebs unter solchen Voraussetzungen entgegen stemmen sollen, ohne an der Diagnose zugrunde zu gehen? Tiefe Dankbarkeit in mir für so manch neuen Denkansatz, der sich bilden konnte und den ich nun weiterhin für mich nutzen wollte.

 Ich erzählte ihr von meinen Helfern aus dem letzten Jahr. Wenn die Einsamkeit nachts zum Beispiel mal wieder sehr groß war, gelang es mir in den vergangenen Monaten ein Energiefeld um mich zu legen, welches mir unglaublich viel Ruhe schenkte. Ein goldfarbener Bogen, der sich an meinen Rücken schmiegte, der mir Halt und Ruhe gab. Klingt das Lächerlich? Und ich bin ganz sicherlich keine Esoterikerin.

 Meine innere Heilreise begann im Jahr zuvor. Davon bin ich überzeugt. Und aus dieser Reise will ich schöpfen, um wieder vollends gesund zu werden. Die Psychoonkologin gibt mir das Gefühl, dass meine innere Einstellung zu meiner Heilung beitragen kann. Ich meiner Intuition vertrauen darf. Das mein großer Vorteil zu sein scheint, dass ich ein Mensch bin, der auf sich zu achten vermag.

 

 Am späten Nachmittag sind meine Leukozyten so weit gestiegen, dass die Isolation aufgehoben werden kann. Juhuuu – ich kann endlich wieder erste Schritte hinaus aus diesem Zimmer wagen und vor allem Justin zu mir kommen lassen, ehe er am nächsten Morgen in das Landschulheim fährt. Er ist ganz verlegen, als er von einem Zivi (ein Hoch auf die Jungs und die wertvolle Zeit, die sie mit unseren Kindern verbringen!!!) zu mir in die Klinik gebracht wird. Er mag mich gar nicht anschauen. Welch ein Glück, dass Karlsson mein Abendessen vorbeibringt und Justin auf diese Weise durch seine Anwesenheit, in sich wieder festigt. Seine Mama im Krankenhaus zu sehen, ist sicherlich sehr irritierend für ihn. Beim Verabschieden halten wir uns innig umarmt. Das tut unendlich gut. Seine Tränen versucht er vor mir zu verbergen. Selbst die Aussicht eine Schranke zu durchfahren um den Parkplatz der Klinik zu verlassen, kann ihn in diesem Augenblick nicht trösten (Justin kann Schranken beim Öffnen und Schließen an Parkhäusern und ähnlichem Stundenlang zuschauen - und eine solche mit einem Auto zu durchfahren, ist für ihn das Größte). Er wird eine gute Zeit verleben in den nächsten Tagen. Dessen bin ich mir gewiss!

 

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Gästebucheintrag meiner kleinen Schwester auf WKW vom 06 Juni 2010

 

...okay Ihr Lieben! Kleine, stellvertretende Berichterstattung!

 

 Das Frollein ist leider seit gestern in der Klinik, da sämtliche Leukozyten durch die 1. Chemo sich in den Urlaub verabschiedet und somit knapp 40 Fieber nach Behandlung geschrien haben...blöder Mist! Da hat sich unsere Süße wohl vielleicht doch zu viel zugemutet die letzten Tage...jetzt wird unser „ fleißiges Lieschen“ mit Zwangsruhe im Isolierzimmer „belohnt“ und bekommt Infusionen, die, glücklicherweise gleich recht gut greifen und ein Leukozytenanstieg im Erfolgsbuch zu verzeichnen ist....puh...es ist zwar eine normale Nebenwirkung der Behandlung die auftreten kann...aber wir hätten ihr ja gewünscht, dass sie nicht alle Aspekte des Beipackzettels ausprobiert...na ja, auch das wird werden! Justin ist bis morgen im Kinderhotel unter und fährt, welch gutes Timing, morgen auf Klassenfahrt! Er ist demnach also auch prima versorgt. Das Frollein ist via Handy erreichbar, dh. SMSen sind sicher zur Aufheiterung willkommen – an der Stelle, Blumen usw. sind leider keine gute Idee, wegen möglicher Bakterien...nicht mal das ist ihr gegönnt...:)

 Also Frolleinchen, freue dich auf Plastikblumen...es lebe der Galgenhumor!

Ja, soweit die neuesten Infos...Dauer des Zwangsurlaubsaufenthalts im Klinikum steht noch nicht fest, also weiter wie bisher, Tag für Tag, Schritt für Schritt! Da unser Frollein nicht mehr in die Sonne darf, kommt sie so zumindest auch nicht in Versuchung...Besuche gehen übrigens insofern man nicht krank ist, und die vorgeschriebene Schutzkleidung getragen wird! Besser ist jedoch, wenn ihr sie vorher anklingelt...

 

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 Mittwochs sind meine Entzündungswerte endlich soweit gesunken, dass das Antibiotikum auf oral umgestellt und ich die Klinik verlassen kann. Mit der Ärztin Frau Dr. H, führte ich zum Abschluss meines Aufenthaltes in der Klinik ein für mich belastendes Gespräch. Sie entschuldigte sich für das Versäumnis in Bezug der Nachsorge für mich, dass dies innerhalb der Klinik zu Konsequenzen führen würde. In Bezug zu meinen nach wie vor entzündenden Wunden konnte sie mir nur sagen, dass ich nichts weiter für diese unternehmen sollte und sie mal nicht vermutet, dass sich diese entzündeten, weil ich diese an einem Pferd abgerieben hätte. Ich glaube, mir stand der Mund offen nach dieser Aussage und war völlig perplex. Zuletzt war ich in der Woche vor der Operation reiten und ganz sicherlich nicht nach der Operation. Frau Dr. H soll wohl gelegentlich ein wenig ruppig in ihrem Ton sein, wurde mir später gesagt. Lassen wir dies stehen wie es ist, ein angemessenes Verhalten einem verunsicherten Patienten gegenüber, ist es sicherlich nicht.

 

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 Endlich wieder Zuhause!

 

 Für den Abend bin ich zum Essen mit Karlsson verabredet. Ausgiebiges duschen und schick machen steht auf dem Plan, mein Selbstbewusstsein mag gestärkt werden. Beim Entkleiden fällt mein Blick in meinen Slip und mir wird ganz anders. In ihm liegen Härchen. Und alle weiteren Härchen meiner Bel Etage lassen sich ganz leicht lösen. Es ist der zwölfte Tag nach der Chemo. Meine Kopfhaare sitzen noch fest und mit ihnen meine Wimpern und Augenbrauen, wie ich mich sogleich überzeuge.

 Somit beginnt dieser gefürchtete Prozess. Ich zupfe an mir, bis ich wie ein gerupftes Huhn aussehe. Es tat nicht einmal weh, sie lösten sich ohne den geringsten Widerstand, einfach so. Meine Härchen an Armen und Beinen verabschieden sich zum großen Teil unter der Dusche und dem anschließenden Trocknen meiner Haut gleich mit. Morbide Faszination auf meiner Seite. „Ach Gottchen“, denke ich mir mit Wehmut im Herzen. Was werde ich meine Haare vermissen (das sich auch die Körperhaare unter einer Chemotherapie verabschieden, war mir nicht klar - aber eigentlich logisch oder.!?...)! Die Blicke der Männer - ich werde dann wohl auf lange Zeit ein Neutrum sein. Das Spiel meiner Haare im Wind. Meine Feminität! Nichts weiter als Oberflächlichkeit und dennoch ein großer Preis um meine Gesundheit und mein Leben zu retten.

 Karlsson erzähle ich gleich bei meinem Eintreffen bei ihm Zuhause, von dieser neuerlichen Veränderung. Meinen Appetit lasse ich mir nicht verderben, denn ich kann endlich wieder essen, ohne das es mich umgehend auf den Weg zur Toilette zwingt. Und ich habe obendrein beschlossen, dass meine Pflanzen aus der Wohnung und von meinem Balkon nicht verbannt werden und so manch anderes aus meinem Leben ebenfalls nicht. Basta...

 

 Ich weiß, dass ich diesen ersten Block der Behandlung bestehen werde. Auf meine Art. ,,Du wirst das schaffen!", spreche ich mir selbst Mut zu, weil:,,Ich bin...!"

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 Wir haben Donnerstag, den 10. Juni 2010, und mir wird mit Schrecken bewusst, dass nächste Woche Freitag bereits die nächste Chemotherapie anstehen wird. Ich bestärke mich und mache mir Mut, dass die zweite ganz bestimmt leichter zu bewältigen sein wird. Ich weiß nun was auf mich zukommen wird, welcher Ablauf und mit welchen Nebenwirkungen ich zu rechnen habe. Das unbekannte Tier im Schrank ist meist größer als die Maus, als die es sich letzten Endes entpuppt. Wenn ich nachts wach liege, frage ich mich selbst ob das alles so wahr sein kann in mir, mit mir. Die Angst vor dem Berg, den ich begonnen habe zu erklimmen, ist geschwunden. Der Respekt vor dem Krebs in mir ist jedoch immens und das Vertrauen und dem Willen leben zu wollen mit all meinem Sein, der ist hingegen groß!

 Ich genieße für den Moment, dass ich mich zusehends von den letzten Tagen erhole. Das dieser Tag zum Beispiel ein guter war. Ich habe einiges an Bürokratie erledigen können und einige neue Informationen bei meiner Frauenärztin einholen können. Eine Blutentnahme zur weiteren Kontrolle war nicht möglich, da mein Arm fürchterlich blutunterlaufen ist von der ganzen Pickserei aus der Klinik. Morgen wird ein erneuter Versuch gestartet werden. Zu dritt haben wir bei meiner Ärztin im Labor gesessen und über die Verstocktheit meiner Venen gelacht. Galgenhumor der besonderen Art! Bei dem Erlebten, das ich aus der Klinik zu berichten weiß, ist meine Frauenärztin entsetzt. Ich beschreibe ihr, wie wenig ich mich als Patientin dort aufgehoben fühle. Sie versichert mir, dass ich definitiv nichts falsch gemacht habe. Dass sie mir keine Spritze welcher Art auch immer hätte geben können, wenn sie keine Empfehlung von Seiten der Klinik in ihren Händen hält. Sie sei kein Onkologe. Da sie mit weiteren Patientinnen ein ähnliches Kommunikationsproblem von Seiten der Klinik kennt, möchte sie dies so nicht stehen lassen und mich an einen Onkologen in der Stadt überweisen. Das Procedere sei für mich nicht weiter tragbar.

 

 Ich bin erleichtert über die Möglichkeit eines ortsansässigen Onkologen und froh, dass ich dieser Klinik den Rücken kehren darf.

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 Für den Abend bin ich mit Maria für den Kinofilm „Sex and the City“ verabredet. Mit einem Glas Prosecco, wie auch schon mittags bei ihr Zuhause im Garten - ganz so, wie ich mir das vorgestellt hatte und allen Unkenrufen zum Trotz. Weil ich mich in ein Kino wage, einem Bazillenmeer, wie es meine kleine Schwester ausdrückt.

 Beim Ausbürsten meiner Haare in der Nacht, zeigt sich das nächste gefürchtete Schreckgespenst. Meine Haare lösen sich mit jedem Bürstenstrich von meiner Kopfhaut. Ich lege diese zur Seite und wickle Strähne für Strähne um meinen Zeigefinger und löse eine nach der anderen, sachte aus meinem Haarschopf. Strähne für Strähne. Ich schaue mir im Spiegel zu und fange meinen schreckgeweiteten Blick ein. Ich kann noch nicht mal weinen. Irgendwann gebe ich Ruhe und verwahre einen großen Teil meiner verlorenen Haarpracht, in einer mit Rosen bemalten Schachtel. Erschöpft lege ich mich zu Bett und verbringe diese Nacht zum Trotz, tief und fest schlummernd.

 

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 Für den folgenden Vormittag steht ein besonderer Termin an. Zum ersten Mal in meinem Leben lasse ich mir meine Nägel in einem Studio mit Gel härten. Ich hoffe sehr, dass ich mir durch diese Aktion meine Nägel über die Chemo retten kann. Von dem Ergebnis bin ich auf jeden Fall begeistert. Sie sehen wunderbar aus. Der morgendliche Blick in den Spiegel sah allerdings weniger gut aus. Meine restlichen Haare binde ich zu einem kläglichen Pferdeschwanz zusammen und versteckte sie unter einer Kappe. Meine Haare fühlen sich an, als wenn sie mit Gewichten an mir hängen – wie tot. Meine Kopfhaut juckt und schmerzt. Ganz eigenartig.

 Mittags fahre ich mit Karlsson wie versprochen zu seinem Heilpraktiker, der mir einige wertvolle Tipps mit auf den Weg gibt für die kommende Behandlungszeit.

  • Tropfen zur Unterstützung für meine Leber und Nieren, Globuli gegen die Übelkeit, ein Müslirezept für die Versorgung von Omega6 Fettsäuren und zusätzlichen Vitaminen (nicht zur Nachahmung empfohlen – dazu komme ich später noch), die Auflage bekommen, unbedingt wieder Wobenzym zu nehmen gegen die Entzündungswerte. Kein Schweinefleisch, viel Fisch und Kalziumprodukte zur Stärkung der Knochen. Teerezepte...

 Auf dem Heimweg bitte ich Karlsson bei einem Herrenfriseur in Aschaffenburgs Innenstadt Halt zu machen. Ich halte das nicht mehr aus, meine Kopfhaut juckt fürchterlich. Ich möchte diesen wichtigen Schritt hinter mich bringen und flitze kurzentschlossen in den Salon hinein. Dem Friseur erkläre ich mein Anliegen und das es möglichst sofort sein sollte. Er mir bitte eine Glatze schert. Meine Glatze. Er schaut mich mit großen Augen an und fragt, ob das wirklich mein Ernst sei? Ja! Er nimmt mich mit in den hinteren Teil des Salons, bittet mich Platz zu nehmen und legt einen Umhang um mich. Leider bin ich nicht alleine, es sind weitere Kunden anwesend. Eigentlich auch egal, bekommen sie nun eben etwas zu sehen. Der Friseur steht hinter mir mit der Schermaschine und fragt mich erneut, ob ich das wirklich möchte? Ja!!!!!!!!!!!!!!!!!! Ich verliere sie doch ohnehin, bitte ihn, falls ich beginnen sollte zu weinen, einfach weiterzumachen. Zögernd setzt er seine Maschine an und meine Haare fallen gebündelt in seine Hände. Du wirst nicht weinen, flehe ich mich an. Meine Augen wirken riesig im Spiegel. Es geht unfassbar schnell und sie sind gefallen. Nun bin ich ein Glatzköpfchen, ganz offiziell! Der Friseur spült meinen Kopf mit warmen Wasser, um die Hautschüppchen zu entfernen, trocknet und cremt mir meine Kopfhaut sachte ein und gibt mir den Rat dies auch in den kommenden Monaten zu tun, damit die Haut geschmeidig bleibt.

 Mein Herz klopft mir bis zum Hals. Ich habe es vollbracht. Meine Haare zu verlieren bis nur noch einige wenige Flusen auf meinem Kopf zurückgeblieben wären, hätte ich nicht aushalten mögen. Dann lieber auf diese Art. 8,- € zahle ich für den Service. Ich setze meine Kappe auf und flitze hinaus. Nur weg von dort, nur weg. Rufe ertönen hinter mir, ich drehe mich um und der Friseur trägt mir meine Haare in einer Tüte nach. Ich Schussel verliere im wahrsten Sinne des Wortes meinen Kopf. Ich klettere zu Karlsson in den Wagen und zeige ihm das Resultat. „Respekt!“ sagt er nur. ,,Schaust besser aus, als ich dich mir vorstellen konnte.“ Dieser Friseurbesuch war sicherlich eine der schrägsten Erfahrungen in meinem Leben!

 

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 Zuhause flitze ich in mein Bad und betrachte meine Glatze in Ruhe im Spiegel. So schaue ich nun aus. „Das bist immer noch du!“ sage ich mir. „Hallo Prinzessin uffm Bersch - du schaffst das!“ mache ich mir erneut Mut. Meine Augen sind unverändert, ich erkenne mich nach wie vor in ihnen. Die vom Friseur mitgebrachten Haare lege ich vorsichtig zu den anderen in die Rosenschachtel und verstaue sie in meiner Abstellkammer in der hintersten Ecke. Zu gegebener Zeit werde ich sie begraben. Ich muss nur noch einen Platz für sie finden. Eine Wiese unter Apfelbäumen vielleicht, auf der ich sie endgültig loslassen kann.

 Wenig später kommt Justin von seinem Landschulheimaufenthalt zurück. Ist das eine stürmische Begrüßung von meinem Jungen. Gerdi, Justins Begleiterin des Bus-Teams, nimmt mich weinend in ihre Arme, als sie mich sieht. Sie hatte vor über 20 Jahren Brustkrebs und weiß nur zu gut, was ich derzeit alles durchmache. Gerdi, ihr Mann Fred und das zweite Bus-Team (sie fahren im Wechsel), sind eine tolle Unterstützung für uns bis zu den Sommerferien. Justin teilt mir mit, dass ich schön bin, nachdem er Zuhause ausgiebig mein Köpfchen bestaunt und gestreichelt hat. Mein Süßer, was hab ich dich so lieb...

 

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 Das Wochenende verbringen wir in aller Ruhe, schotten uns ein wenig von außen ab und proben unseren neuen Alltag. Wir schmunzeln über unsere Nachbarschaft, die uns mit lauten ,,Hurras" jedes Tor wissen lassen, dass die Nationalmannschaft für Deutschland im Rahmen der Weltmeisterschaft erspielt.

 

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 Montagfrüh rufe ich bei dem Onkologen in der Stadt an und vereinbare für Ende der Woche einen Termin für die zweite Chemotherapie in der Tagesklinik. Ich teile mit wer meine behandelnde Frauenärztin ist, welche Chemo ich bekomme und mit welcher Diagnose. Ein Blutbild bräuchte ich im Voraus keines vornehmen lassen, dies werde in der Tagesklinik vorgenommen.

 Ich hoffe sehr, dass diese Entscheidung des Wechsels für mich eine bessere Behandlung verspricht, ich leichter an Informationen komme und eine gebündelte Kommunikation erlebe. Für jetzt fühle ich mich erleichtert...

 

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 In dieser Woche können wir bereits den vollen Terminplan für Justin aufnehmen. Reiten, Logotherapie, Krankengymnastik. Ich kann meinen Sohn wieder auf sein Rad setzen und unsere Touren durch Aschaffenburg drehen. Das fühlt sich richtig gut an. Das wir unser gewohntes Leben führen können, schenkt uns beiden Stabilität.

 Die Zeit, die Justin in der Schule verbringt, nutze ich für unseren Haushalt, meinen vielen Terminen und organisatorischen Dingen. Unter anderem habe ich ein Rezept für einen neuen Rollstuhl Justins besorgt, da sein bisheriger zu klein geworden ist. Vorsorglich habe ich für die Krankenkasse ein Attest von meiner Ärztin besorgt, warum es für die Zukunft ein Leichtgewichtsrollstuhl sein sollte. Wenn es schon ist wie es ist, möchte ich es mir in unserem Alltag so leicht als möglich machen. Und ich weiß worauf ich zu achten habe in Bezug zu Krankenkassen und Co., an welcher Stelle sich Stolperfallen auftun und ähnliches mehr.

 Mein linker Arm macht mir mittlerweile Probleme, trotz der begonnenen Krankengymnastik. Lymphflüssigkeit, die sich in der betroffenen Achsel und im Schulterbereich zunehmend sammelt und auf meine Nerven drückt. Es schmerzt und ich versuche dennoch keine Schonhaltung einzunehmen, um mir die Beweglichkeit meines Armes zu erhalten. Ich brauche die volle Funktionalität meines Armes. Justin muss ich weiterhin versorgen und stützen können beim Laufen, Treppen steigen und von dem Handling der Hilfsmittel mal gar nicht zu reden, die Teilweise doch sehr unhandlich und schwer sind. Nadine, meine Physiotherapeutin, rät mir dringend dazu, ein Rezept für Lymphdrainage verordnen zu lassen, welches ich auch anstandslos erhalte. Die Lymphdrainage ist eine reine Wohltat und Entlastung für mich, vor allem als Rebecca diese übernimmt. Rebecca und Nadine sind beide ein Schatz. Beide vermitteln mir den Eindruck, dass ich eine bewundernswerte Kraft und Mut ausstrahle, die sie nicht oft bei Krebspatienten erleben. Zusätzlich übe ich mich weiterhin im Yoga und freue mich für Donnerstag auf die erste Reitstunde seit Wochen, die mir unglaublich gut tun sollte. Das Versorgen von Calypso, seinen warmen Pferdegeruch einzuatmen, auf ihm reiten zu dürfen und mit seinen Bewegungen in Einklang zu kommen - wunderbare, gelebte Lebendigkeit...

 

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 Donnerstagnachmittags steht in der hiesigen Brustambulanz, der zweite Termin zur Clipmarkierung an, der eigentlich erst nach der zweiten Chemo erfolgen sollte. Aber ich wollte diesen Termin einfach nur hinter mich bringen. Frau Dr. G weist mich erneut darauf hin, dass dies doch noch gar nicht nötig sei, aber da ich ja nun schon mal da bin, könne sie ja mal gleich schauen was ein Ultraschall der Tumore ergibt. Sie fragt, wie ich mich fühle und ob ich an den Tumoren eine Veränderung habe feststellen können? Ich erzähle ihr, dass ich beim Tasten in den letzten Tagen Schwierigkeiten hätte, die beiden Tumore ausfindig zu machen und dies aber durchaus auf meine Psyche zurückführe, die ja mehr als genug mitmachte in den vergangenen Wochen. Beim Schallen wird Frau Dr. G stutzig und meint zu mir, dass sie zum Vergleich des Ultraschalls sich die Bilder des MRTs anschauen möchte, da sich an den Tumoren wohl einiges getan hätte. Sie verlässt den Raum und kommt einige Minuten später perplex zurück und fragt mich, wie lange ich noch Zeit hätte hinsichtlich meines Sohnes von dem ihr bekannt ist, dass dieser schon bald aus der Schule nach Hause kommt. Sie möchte den Tumor sofort markieren, da dieser erheblich kleiner wurde - und das schon nach der ersten Chemotherapie.

 In diesem Moment herrscht ein unglaubliches Hochgefühl in mir. Ich könnte ,,Hurra" brüllen vor Freude und gleichzeitig vor Erleichterung weinen, weil sich Dick und Doof schon so bald derart klein machen. Woran dieses schnelle Ergebnis liegt, konnte mir Frau Dr G nicht sagen. Ob es nun an dem G3 Faktor liegt, der so gut auf die Chemo anspricht oder an meiner mentalen Einstellung gegenüber dem Krebs – Hauptsache, es tat sich etwas und die Chemo zeigt einen Erfolg. Dieser Erfolg ist eine ungeheure Motivation für die zweite Chemotherapie, die am morgigen Tag ansteht. Ich wage leise zu hoffen, dass sich die beiden Tumore unter der Chemotherapie vollends vom Acker machen. Sie sich ganz, ganz klein machen und sich in ihre allerkleinsten Teilchen ihrer selbst auflösen und sich aus meinem Körper verziehen. Weg – einfach für immer weg. Raus aus meiner Brust und meinem Körper!

 Der zweite Tumor ist markiert und um dem Protokoll gerecht zu werden, wird für die kommende Woche ein weiterer Termin für eine Mammographie vereinbart. Ich werde mit den Worten verabschiedet, dass ein weiterer Kontrolltermin vor der Operation nicht nötig sei. Eine Mammographie noch im hiesigen Brustzentrum und das war es dann endgültig für mich an Terminen dort vor Ort, denke ich mir erleichtert. Yes, I can!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!

 

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 Vor lauter Anspannung vor der nächsten Chemotherapie, bin ich schon morgens um 5 Uhr wach. Alles ist vorbereitet. Direkt nach dem Verabschieden am Schulbus von meinem Sohn, laufe ich in die Stadt zur onkologischen Tagesklinik und bündele unterwegs meine Gedanken für den vor mir liegenden Akt. In der Tagesklinik angekommen, übergebe ich die bisherigen Unterlagen am Empfang und stelle mich Herrn Dr. W, meinem zukünftigen Onkologen vor. Er trägt keinen weißen Kittel, was ich als sehr angenehm empfinde. Er fragt mich, warum ich erst die Chemotherapie durchlaufe, anstelle der Operation und weist mich darauf hin, dass mir diese Vorgehensweise keinen Vorteil bringen wird gegenüber meinem Krankheitsverlauf oder um ein eventuelles Rezidiv zu vermeiden. Ich versichere ihm, dass ich mir dessen bewusst bin. Dennoch bröckelt mein Selbstbewusstsein bei seinen Worten dahin und ich schleife es im Anschluss nach diesem Gespräch hinter mir her in die Tagesklinik...

 In dieser Tagesklinik herrscht eine völlig andere Atmosphäre als im Klinikum. Der Empfang ist getrennt vom Behandlungsraum. Für jeden Patienten steht wesentlich mehr Raum zur Verfügung und dank vorhandener Trennwände zwischen den einzelnen Sesseln, gibt es Privatsphäre für die Patienten. Eine ruhige Geschäftigkeit liegt in der Tagesklinik vor. Man fühlt sich als Patient angenommen und gut aufgehoben. Angehörige sind als Begleitung willkommen. Ich werde gebeten mir einen freien Sessel auszuwählen und entscheide mich für einen Platz direkt am Fenster, mit Blick aus dem 5. Stock, hinaus auf den Bahnhof und die Gleise. Mein Blick kann schweifen.

 

 Eine der Schwestern sticht mir den noch immer geschwollenen Port an, spült diesen und nimmt mir Blut ab zum Testen der Thrombozyten und Leukozyten. Ich bin erstaunt, dass sich Blut abnehmen über den Port so einfach bewerkstelligen lässt und meine Armvenen dankenswerterweise nicht weiter geschunden werden. Da der Schwester meine Narbe des Ports nicht gefällt, holt sie Herr Dr. W hinzu und es wird besprochen, dass die restlichen Fäden die sich nicht selbst aufgelöst haben, gezogen und entfernt werden, um den Heilungsprozess zu fördern. Mit der Narbe im Achselbereich sieht es nicht so einfach aus. Herr Dr. W erklärt mir, das die Chemotherapie den Heilungsprozess erheblich stört und ich davon ausgehen sollte, dass die Wunde bis zum Ende der Therapie nicht abheilen wird. Mit seiner Einschätzung, sollte er leider Recht behalten...

 Der Sentinellschnitt ist noch immer offen und schwimmt in Wundflüssigkeit. Ein späterer Ultraschall ergibt, dass kein Erguss vorliegt. Das ist schon mal gut. Das ich meinen Arm oft hochlegen soll, um Luft an die Wunde zu lassen, kühlen und wie ich das in den vergangenen Tagen bereits getan habe das Pflaster weglassen, da meine Haut mittlerweile selbst auf Allergiepflaster, allergisch reagiert. In der Zwischenzeit liegen die zufriedenstellenden Ergebnisse der Blutuntersuchung vor und mit der zweiten Chemotherapie kann begonnen werden.

 

 Erst wird mir ein hochdosiertes Mittel gegen die Übelkeit injiziert. Dann folgen zwei Beutel mit der Chemotherapie und als dritter Bestandteil, folgt die rote Flüssigkeit oder meine Margarita der besonderen Art, wie ich sie für mich nenne, die mittels einer großen Spritze ebenfalls über den Port gegeben wird. Erst zum Abschluss, erhalte ich eine Einheit Kochsalzlösung zum Verdünnen.

 Ich bin ganz verwirrt und frage nach, weil ich bei der ersten Chemotherapie nach jedem Beutel der einzelnen Chemokomponenten, 500ml Kochsalzlösung bekam. Mir wird erklärt, dass dies viel zu belastend für den Körper sei. Auf diese Art habe ich einen Liter weniger Flüssigkeit in mir zu verarbeiten. Wobei die Nebenwirkungen so oder so gravierend sind. Mit der Übelkeit habe ich bereits während des Einlaufens der Chemotherapie zu kämpfen. Dagegen bekomme ich mit mäßigem Erfolg ein weiteres Mittel während der Chemotherapie über den Port gespritzt. Alles in allem vertrage ich die zweite Chemotherapie besser als die erste von vor drei Wochen. Ich habe kein Herzrasen, mir ist nicht schwindelig. Meine Hände schmerzen von den Kältehandschuhen und ich kämpfe gegen die ersten Müdigkeitsflashs an. Aber alles in allem geht es mir gut. Ich lasse meine Gedanken kommen und gehen, während die Chemotherapie langsam in mich tröpfelt. Denke viel an meinen Sohn und beschwöre mich, dass wir das schaffen werden. Ich unbedingt gesund werden möchte. Mit allem was mich ausmacht. Ich werde das schaffen! ,,Ich bin gesund!", flüstere ich in Gedanken unzählige Male meinen Zellen vor...

 

 Für meine zweite Chemotherapie, saß ich ebenfalls gute 4 Stunden. Wenn man bedenkt, dass ein Liter weniger Flüssigkeit in mich lief, ist diese Chemo langsamer in mich getröpfelt. Ich habe die zweite in mir, nun sind es nur noch vier. Klingt doch gar nicht mehr so schlimm...

 

 An der Anmeldung bekomme ich zur Verabschiedung einen neuen onkologischen Pass überreicht, mit allen wichtigen Telefonnummern an die ich mich wenden kann, falls es mir nicht gut gehen oder Nebenwirkungen auftreten sollten, die mich verunsichern. Zusätzlich Rezepte für die benötigten Medikamente, inkl. der Neulastaspritze, die ich mir am Samstag selbst in den Bauch injizieren kann. Solch eine Spritze allein kostet circa 1500,- €. Anbei (welch ein Fortschritt!) ein Ausdruck, für wie lange und wann ich welche Medikamente zu nehmen habe und wann ich mit welchen Medikamenten vor der nächsten Chemotherapie zu beginnen habe. Einen Termin für in 10 Tagen, zwecks nächster Blutkontrolle und einem Terminplan, für die kommenden vier Chemotherapien.

 Auf diese Art gewappnet für die nächsten Tage, fahre ich mit einem Taxi nach Hause. Ich bin müde, sehr müde, aber an Schlaf ist nicht zu denken. Laut dem Onkologen liegt das an dem Cortison, welches innere Unruhe auslösen kann. Meine Entscheidung die Tagesklinik zu wechseln, fühlt sich richtig gut an. Ich habe weniger Anlaufstellen für die kommenden Monate und mit meinem Körper wird sorgfältiger umgegangen. Sehr beruhigend an dieser Stelle.

 

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 Meine Mutter schaut am frühen Abend nach mir. Als Glatzköpfchen öffne ich ihr die Tür. Sie ist tief berührt, mich zum ersten Mal ohne meine Haare zu sehen. Das ich dennoch toll aussehen würde und eine schöne Kopfform hätte. Gar nicht entstellt. Sie mag sich unbedingt meine Haare im Rosenkästchen anschauen. Meine schönen Haare, die ich mir bislang nicht wieder angeschaut habe. Es tut uns beiden weh, sie so vor uns liegen zu sehen. Deswegen schnell wieder weg mit dem Schächtelchen.

 Die ersten Tage ohne meine Haare waren schon eigen. Zum Beispiel meine Nachbarn, die nicht wussten wo hinschauen bei einer Begegnung und mich anfangs vor Verlegenheit nicht grüßten. Immer daran zu denken einen Schal um meinen Kopf zu winden oder ein Beanie aufzusetzen bevor ich meine Wohnung verlasse, ist durchaus lästig. Ich ertappe mich immer wieder in Situationen, in denen ich mir meine Haare aus dem Gesicht streichen möchte oder sie hinter meine Ohren stecken mag. Sie fehlen mir so sehr...

 Zuhause bin ich ohne Kopfbedeckung aktiv. Für Justin und meine Freunde ist es voll und ganz in Ordnung, mich mit meiner Glatze um sich zu haben - das ist ein gutes Gefühl. Ein geschützter Rahmen, in dem ich mich frei bewegen kann. Auf jeden Fall war ich noch nie so schnell zurechtgemacht im Bad wie derzeit.

 

 Die heutige Chemo traute ich mich bereits ohne Kopfbedeckung durchzustehen. Eine ältere Frau spricht mich in der Tagesklinik an, die ihren Mann zu einer Bluttransfusion begleitet. Sie selbst hätte vor etlichen Jahren Brustkrebs gehabt und musste ebenfalls eine Chemotherapie durchstehen. Dass sie sich damals für ihre Glatze fürchterlich geschämt hätte, Perücke trug und sie es sehr bewundert, dass ich mich traue, mich ohne meine Haare zu zeigen. Sie drückt meine Hand und wünscht mir von Herzen, alles Gute.

 Es ist nun einmal wie es ist - ich habe Krebs und es gibt keinen Grund für mich, mich zu verstecken oder gar zu schämen, wie es manch einer Betroffenen danach ist oder einem sein Umfeld vermitteln möchte. Ich sehe zu, dass es mir Trotz allem gutgeht. Das ich alle Kraft bei mir behalte, die ich so dringend benötige. Nur weil ich krank bin, lasse ich mich nicht durchgehend hängen. Ich lege Sorgfalt auf mein Make-Up, mit dem ich immer recht dezent umgegangen bin, kleide mich derart, dass ich mich wohlfühle. Ich bin heilfroh, dass ich bislang meine Wimpern und Augenbrauen nicht verloren habe, mein Gesicht seine Konturen bewahrt hat. Durch die Chemotherapie ist meine Haut sehr feinporig geworden und schenkt mir den Teint einer Porzellanpuppe. Die schmerzhaften Entzündungen nach der ersten Chemotherapie, sind zum Glück verheilt und sollten sich auch nicht wieder einstellen.

 

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Es ist Samstag, der erste Tag nach der zweiten Chemo. Ein neuer Tag steht an. Mal sehen, was er bringen wird. Wind tobt um das Haus und schiebt dicke Regenwolken über den Himmel vor sich her. Die Prinzessin uffm Bersch sitzt auf ihrem Turm und schaut dem schwedischen Traumpaar gerührt dabei zu, wie es strahlend den Bund für ein gemeinsames Leben eingeht...

 

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Ein Frühstück habe ich Sonntagmorgens erfolgreich umgangen, dass scheint mir meinem Magen genehmer zu sein. Dafür gibt es jede Menge Tabletten zu futtern:

  • eine Cortison Tablette
  • einmal Antibiotikum
  • einmal Tropfen gegen die Übelkeit
  • zwei Tabletten Wobenzym P
  • einmal Selen
  • zweimal Nahrungsergänzungsmittel (bitte nur nach ausdrücklicher Rücksprache mit dem Onkologen verwenden)
  • Tropfen um meine Leber zu unterstützen und welche, die die Chemo besser wirken lassen helfen
  • Dazu trinke ich einen Tee, zusammengestellt aus Lindenblüten, Brennnessel und Schafgarbe. Der schmeckt gut, leicht würzig. Mein Spezialmüsli zu essen für mein Omegadepots, ist mir vor lauter Übelkeit nicht möglich. Ich mag mich auch nicht quälen
  • Mir die Neulastaspritze zu setzen war nicht weiter tragisch, ähnlich wie eine Thrombosespritze. Rein in die Bauchfalte damit und gut ist

 Was mir sehr unangenehm ist, wie auch schon bei der ersten Chemotherapie, dass ist der unglaublich widerliche Geschmack in meinem Mund. Es ist mir erneut nicht möglich ausreichend zu trinken. Dabei wäre dies so wichtig um die Nieren zu spülen. In der Regel trinke ich mehrere Liter Wasser am Tag, aber das geht nun gar nicht. Nicht zu fassen, dass Wasser so ekelerregend faulig schmecken kann. Wenn es jedoch wie bei der vergangenen Chemo sein wird habe ich die Hoffnung, dass sich dieser in den kommenden Tagen verflüchtigen und ich spätestens am Dienstag wieder Wasser trinken kann.

 

 Mit Karlsson bin ich zu einem gemeinsamen Kochabend verabredet. Die Zeit mit ihm hat mir wieder unglaublich gut getan. Wir haben uns an gedünstetem Steinbeißer auf einem Gemüsebeet versucht, Rucolasalat und für mich Cola zum Trinken. Normalerweise trinke ich höchstens ein oder zweimal im Jahr ein Glas Cola. Dieser Tage scheint es das einzige zu sein, was an mich geht und ich bei mir behalten kann. Bei den vielen Kalorien und Zucker die in solch einer Flasche stecken, wird mir ganz anders. Und dabei ist es doch jetzt nochmal so wichtig, dass ich mich ausgewogen und gesund ernähre. Mein schlechtes Gewissen schlägt Purzelbäume.

  •  Während der kommenden Chemotherapien, sollten sich zusätzlich alkoholfreies Bier als trinkbar herausstellen und Müllers Erdbeermilch, ehe ich wieder auf Wasser und Tee umstellen konnte

 Wenn Karlsson nicht hinschaut, wird Tony sein Hund, von mir mit Leckerbissen verwöhnt. Tony mit seinen lieben Augen, der so herrlich knotert, wenn er sich mir zu Füßen legt und mich dazu auffordert, meine Hände kräftig durch sein Fell fahren zu lassen.

 Die Nacht verbringe ich in Karlssons Arme gekuschelt, der klaglos meine Hitzewallungen aushält, die mir sehr unangenehm sind. Wechseljahressymptome, ausgelöst durch die Chemotherapien. Meine Periode hat sich bereits nach der ersten Chemo verabschiedet, wobei ich diese nicht wirklich vermisse. Aber diese Hitzewallungen sind alles andere als angenehm und sollten mich noch das Fürchten lehren...

 Karlsson verspricht mir in dieser Nacht einen geheimen Wunsch zu erfüllen, falls ich es nicht schaffen sollte, den Krebs in mir zu besiegen. Bei der Vorstellung in der Erde beerdigt zu werden, ist mir nicht wohl. Mich langsam in meine einzelnen Atomteilchen aufzulösen und dabei allerlei Getier als Nahrungsstätte zu dienen, widerstrebt mir zutiefst.

 Ich möchte eingeäschert werden und das meine Asche über eine blühende Apfelbaumwiese verstreut wird. Am liebsten an einem herrlichen und sonnigen Frühlingstag. Einmal richtig frei sein. Wenn schon nicht im Leben, dann zumindest über den Tod hinaus.

 Ich weiß, dass dies in Deutschland offiziell nicht möglich ist, aber es gibt bestimmt Mittel und Wege selbst in unserer Gesellschaft, die den Tod derart erfolgreich bürokratisiert und antiseptisch aus unserem Leben verbannt hat. Das Trauern um einen geliebten Menschen ist wichtig. Dazu gehören Lachen, Weinen, sich Erinnern, Trost finden und sich gegenseitig stützen. Das möchte ich niemandem um mich Absprechen, aber den äußeren Rahmen für mich festlegen, dass möchte ich schon!

 Wenn ich verstorben bin, möchte ich niemanden in meiner Vorstellung sehen, der an meinem dunkel ausgehobenen Grab steht und Tränen um mich weint. Dort wäre ich ja nicht mehr. Nichts von dem, was mich als der Mensch Nicole ausmacht, außer einer leeren und nutzlos gewordenen Hülle. Lieber jetzt bewusst geschenkte Zeit mit mir wichtigen Menschen erleben, als später vor einem Grab stehen, wenn ohnehin alles vorbei ist. Sicherlich wird manch einer aus der Familie dabei sein wollen, mit dem ich in den letzten Jahren keinen nennenswerten Kontakt hatte. Falls dem so sein sollte, sollte es mich hier und jetzt nicht kümmern. Ich möchte in meinen Augen nur kein falsches betrauern um meine Person. Auf Karlsson werde ich mich diesbezüglich verlassen können. Meine Familie würde wohl doch eher einen klassischen Weg meiner Entsorgung bevorzugen.

 

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 Die kommenden Tage werden ein reiner Balanceakt für meinen Geruchssinn und Magen. Ein Ausprobieren an Nahrungsmitteln steht an in der Hoffnung, diese bei mir zu behalten. Meine sonst bevorzugte Küche, ist eine leichte Küche. Ich koche mit Leidenschaft und probiere gerne neues an Rezepten aus. Fertiggerichte oder ähnliches gibt es bei uns seltenst. Wir gehen samstags auf dem Markt einkaufen um uns dort mit frischen Produkten zu versorgen. In den letzten Jahren fand unmerklich ein Wandel in meinem Konsumverhalten statt, der meiner Lebensmaxime am nächsten kommt. Von vielen Dingen lieber weniger und dafür mit Genuss von manch anderem mehr. Ich brauche nicht jeden Tag Wurst oder Fleisch und das auch noch möglichst billig. Wenn, dann gehe ich lieber zu dem Metzger meines Vertrauens. Mein Sohn folgt mir in dieser Richtung zum Glück, der schon als kleiner Junge mit Genuss zu essen verstand und dem ich Tischkultur nahebringen konnte, trotz seiner schweren Behinderung. Ein schön gedeckter Tisch ist etwas Wunderbares für uns beide.

 Wobei ich durchaus eine Trostesserin bin. Ich liebe Puddings, selbstgemachten Grießbrei und Milchreis mit Früchtepürees. In der ersten Zeit nach der Diagnose fragte ich mich anfangs, ob ich zu wenig Obst und Gemüse gegessen habe oder ein zu viel an Schokolade, die liebe ich nämlich sehr. Dafür rauche ich nicht, trinke in Maßen Wein. Andere leben ungesünder und bleiben gesund. Und nun in den ersten Tagen mit der zweiten Chemotherapie in mir, ernähre ich mich unausgewogener als in den vergangenen Jahren. Ich trinke Cola, weil dies das einzige ist was ich in mir behalte, öffne meinen Kühlschrank mit zugehaltener Nase um Übelkeitsattacken abzuwehren und für Justin Mahlzeiten zuzubereiten, die in keinster Weise an mich gehen. Ich ernähre mich von Müller Milchreis und Kartoffelpüree aus der Tüte, was es vorher nicht zu essen gab. In den folgenden Chemozyklen sollte sich zeigen, dass es meinem Magen meist in der darauffolgenden Woche ab Mittwochs, wieder relativ gut ging. An diesem Mittwoch entwickelte sich zeitgleich ein ungeheurer Appetit auf fettiges Essen. So war ich an diesen Tagen mit Justin und einer Begleitung, meist in einem gemütlichen Biergarten zum Essen verabredet und bestellte mir neben einer großen Portion Bratkartoffeln, einen würzigen Fleischkäse auf das Feinste drapiert mit einem Spiegelei und einem ordentlichen Klecks Frankfurter Grüne Soße und habe dabei auf alle Kalorien gepfiffen, die sich auf meinem Teller tummelten.

 Im Anschluss nach diesem Mittwoch, beruhigt sich mein Magen zusehends und der fürchterliche Geschmack weicht von mir. Dafür kann ich immer weniger schmecken. Das schmecken der Aromen vermisse ich schon bald sehr und verliere dadurch die Lust am Essen. Ich muss mein Essen verstärkt salzen um überhaupt etwas schmecken zu können. Lerne schnell, dass ich mit starken Reizen in der Nahrungswahl spielen muss, damit ich etwas zu mir nehmen kann. Ich greife häufig zu Rucolasalat, Spinat und viel Fisch. Würze im großen Stil mit Meerrettich und Wasabi. Obst geht größtenteils überhaupt nicht an mich und ähnlich ergeht es mir mit Milchprodukten. Ich freue mich schon jetzt auf den Tag, an dem sich meine Geschmacksnerven von den Zellgiften erholen und ich mit Genuss wieder schmecken darf.

 

 Am Dienstag nach der Chemotherapie ist es mir endlich wieder möglich, Wasser zu trinken. Teilweise bis zu vier Liter in den kommenden Tagen, ehe am Ende der Woche eine erneute Mundschleimhautentzündung zuschlägt und mir das Trinken vergällt, weil jeder Schluck und Bissen schmerzt. Ohnehin zeigt sich, dass gewisse Nebenwirkungen aus der ersten Chemotherapie, sich in der zweiten ungefähr zeitgleich wiederholen. Ein Aha – Effekt und schräges Gefühl der Vertrautheit stellt sich ein. Manche Nebenwirkungen begleiten mich ein paar Tage, ehe sich diese Verabschieden und anderen Nebenwirkungen Platz machen. Manche sind nicht weiter schlimm, andere wiederum sind sehr unangenehm. Mit den meisten kann ich mich recht gut arrangieren. Klar, sie sind nicht toll, schränken mich andererseits nicht zu arg ein. Ich sehe zu, ihnen keinen allzu großen Raum zuzugestehen und mich stattdessen darauf zu konzentrieren, was mir alles möglich ist. Mein größtes Übel ist das Problem mit meinem Magen und meinen Muskeln. Sonntags nach der Chemo (das liegt in diesem Fall an der Neulastaspritze, die sich mit solchen Nebenwirkungen bemerkbar macht), beginnen meine Muskeln und Knochen scheinbar jegliche Substanz zu verlieren. Jede Bewegung wird zu einem reinen Kraftakt. Ich habe eine tiefsitzende Schwäche in mir, die kaum zu beschreiben ist. Normalerweise bereitet es mir keine Mühe, die vier Etagen hoch zu uns in die Wohnung zu laufen oder generell viel zu Fuß unterwegs zu sein. In diesen Tagen bin ich jedoch heilfroh, wenn ich unsere Termine erfolgreich absolvieren und uns ein Fahrstuhl im Haus zur Verfügung steht, der uns nach oben in unserer Wohnung befördert und in dieser ein bequemes Sofa dazu einlädt, eine Erholungspause von all den Strapazen einzulegen und ist sie noch so klein.

 Dies sind anstrengende Tage. Diese Schwäche meiner Muskeln wird ab Donnerstagnachmittags schnell besser, so dass ich freitags mit meinem Sohn bereits die ersten Runden auf seinem Rad durch Aschaffenburg drehen kann. In der Regel sind wir im Schnitt circa 5-8 km unterwegs. An manchem Wochenende können es auch mal bis zu 10 km werden. Justin auf dem Rad. Ich zu Fuß. Jeder einzelne meiner Schritte, der zu einem weiteren gelaufenen Kilometer führt, erfüllt mich mit einem unglaublich befriedigenden Gefühl. Jeder dieser Schritte sagt mir, ich lebe und ich kann es schaffen. Ich bin erstaunt über all das was in mir derzeit an Prozessen vonstatten geht, ausgelöst durch die Chemo. Klopfe mir selbst auf die Schulter und sage mir, wie erstaunlich gut ich das alles bestehe.

 

Kapitel 7

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