V

 

 Der große Tag X ist angebrochen. Justin und ein Zivi haben mich morgens an der Klinik abgesetzt. Mein großer Junge, der beim Verabschieden seine Tränen tapfer hinunterschluckt.

 

 Die Klinik wird derzeit umfassend erweitert und umgebaut. Es ist unglaublich laut auf der Station. Bei meiner Ankunft stehe ich mit meiner gepackten Tasche auf der gynäkologischen Station und werde gebeten zu warten. Über eine Stunde. Ich verstehe den Unsinn dieser frühen Einbestellung nicht, wenn eh nichts passiert. Das Warten ärgert mich immens. Ich werde zunehmend wütend, wütend auf den mich umtosenden Baulärm, wütend auf einfach alles. Innerlich schelte ich mit mir, rufe mich zur Räson und besinne mich auf meine Atemtechniken. Das hilft. Ich muss über mich selbst lachen und lasse mit meinem Lachen die Wut los.

 Die meisten Krankenschwestern, die mir an diesem Tag begegnen, sind nicht wirklich freundlich. Den Grund dazu erfahre ich wenig später. Eine Mitpatientin liegt mit mir auf dem Zimmer. Auch hier ist es durch den Baulärm extrem laut. Eine Zumutung für das Krank sein und Gesund werden. Nach einer Unterhaltung mit meiner Mitpatientin, ist mir nicht. Eine Krankenschwester teilt mir für den heutigen Tag meine entsprechenden Anlaufstationen mit. Bei diesem Gespräch werde ich unter anderem darüber aufgeklärt, dass derzeit ein Ärztestreik laufen würde und es zu erheblichen Verzögerungen im weiteren Ablauf kommen kann. Für den weiteren Tagesablauf stehen eine aufwendige radiologische Untersuchung zur Aufspürung der Wächterlymphknoten an, Blutentnahme, Gespräche mit dem Anästhesisten und mit dem Oberarzt, zusätzlich eine Aufklärung betreffend der Chemotherapie.

 

 Der Radiologe erklärt mir die anstehende Untersuchung und schnoddrig wie er ist, dass das eine schöne Scheiße sei, in der ich da sitzen würde. Ja, da hat er aber so was von Recht!

 

 Für die radiologische Untersuchung muss ich mich erneut halbnackt auf einen Tisch legen der zu einem Untersuchungsgerät führt, welches die Wächterlymphknoten aufspüren soll. Vorab wurde mir zur Aufspürung ein Kontrastmittel gespritzt. Dreimal wird diese Untersuchung im Abstand von jeweils einer Stunde durchgeführt, bis ersichtlich ist, dass drei Wächterlymphknoten auf meine Tumore aufpassen. Drei Wächterlymphknoten, die die Gefahr in sich bergen, von Krebszellen befallen zu sein. Diese Wächterlymphknoten werden bei der morgigen Operation entfernt werden und per Schnellschnitt durch den Pathologen geprüft werden, ob sie von Krebszellen befallen sind oder nicht. Falls sie von Tumorzellen betroffen sein sollten, würden mir bei dieser Operation alle Achsellymphknoten im näheren Radius entfernt werden.

 

 Das Aufklärungsgespräch für die anstehende Operation führe ich mit dem Oberarzt der gynäkologischen Station. Leider spricht dieser Arzt nur ein sehr gebrochenes Deutsch und ich leider kein Englisch. Dies führt zu Verständigungsschwierigkeiten. Auf meine vielen Fragen bemerkte Herr Dr. M, dass er schon merken würde, dass ich eine ganz Schlaue sei. Das ich froh sein solle, mit dieser Diagnose nicht in Afrika zu leben (der Spruch weckt lodernde Wut in mir - das weiß ich selbst nur zu gut, alleine schon im Hinblick zu Justin). Das Sylvie van der Vaarth es wesentlich schwerer getroffen hätte als mich (Nanu.!?) und er für mich sehr froh sei, dass meine Tumore hormonpositiv sind und HER2 negativ. Das ich gute Chancen hätte wieder gesund zu werden, versichert mir Herr Dr. M. Was es bedeutet einen hormonrezeptorpositiven Brustkrebs zu haben, der nicht HER2 positiv ist, habe ich erst viel später gelernt zu verstehen.

 Der Port wird mir auf der rechten Seite unterhalb meines Schlüsselbeins eingesetzt werden, erklärt Herr Dr. M weiterführend. Dieser Port wird in eine Arterie eingeführt, da diese stärker sind als Venen in der Armbeuge, die kollabieren könnten unter der Chemotherapie. In meiner Vorstellung bin ich von meiner linken Seite für den Port ausgegangen. Schönes Dekolleté war dann mal. Als wenn es darauf noch ankommt - letzten Endes gleich. Dass ich diesen Port nicht spüren oder kaum sehen werde im Alltag, erläutert er mir zudem. Pustekuchen, wie sich später herausstellen sollte (Der Port wird sehr deutlich als Knopf unter meiner Haut zu sehen sein und er machte mir Schwierigkeiten im Alltag). Das ich durchaus mit Beeinträchtigungen in meinem linken Arm werde rechnen müssen auf Grund der entfernten Lymphknoten, wie zum Beispiel Bewegungsstörungen und einem eventuellen Lymphödem.

 In dieser Richtung habe ich im Vorfeld bereits vorgesorgt und mit meiner Frauenärztin Frau Dr. P vereinbart, dass ich nach der Krankenhausentlassung ein Rezept für Krankengymnastik bekomme, um mir schnellstmöglich die Beweglichkeit meines Armes zu erarbeiten. Ich möchte mich möglichst fit und stark fühlen während meiner Behandlungszeit, damit ich alle Kraft in meine Heilung investieren kann, um sie positiv lenken zu können.

 Etwas später stellt sich mir die Psychoonkologin der Klinik vor und ich erzähle ihr von dem Gespräch und der Einschätzung des Arztes. Aber auch das es mir schwer fällt, den Ärzte zu vertrauen. Gerade weil es zu Anfang hieß, dass man bei mir von gutartigen Veränderungen ausging und nicht von Krebs.

 Ich habe Angst vor der Möglichkeit, dass mich mein Misstrauen daran hindert, gesund zu werden. Sie ist überrascht, als ich ihr erzähle, dass ich Justin auf die anstehenden Veränderungen vorbereitet habe. Frage sie, wie man mit der Angst vor der Krankheit umgeht? Ich weiß, wie ich nicht mit der Krankheit umgehen möchte - das haben mich andere Betroffene in meinem Umfeld gelehrt. Jede hatte ihre eigene Art mit ihrer Erkrankung umzugehen. Manches gleicht sich, anderes ist völlig konträr. Dennoch steht ihr Schicksal mir vor Augen und zeigt eine Möglichkeit meiner Zukunft, die mich zutiefst verunsichert und ängstigt. Zweifel wühlen in mir, ob ich es denn überhaupt schaffen kann den Krebs in mir zu besiegen und aus meinem Körper zu verbannen. Und dem innigen Wunsch auf der Gegenseite, vollends gesund zu werden und dem Krebs in mir die Rote Karte zu zeigen. Allen Zweifeln zum Trotz...

 

 Den Rest des Tages verbringe ich in Meditation versunken. Besinne mich auf meine Atmung. Atme tief ein und aus... Zum ersten Mal seit Wochen kehrt Ruhe in mich ein. Gelassenheit. Die Nacht schlummere ich dank einer Schlaftablette, tief und fest. Ein Hoch auf die Pharmazie...

 

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 Am Tag der Operation, heißt es erneut warten. Die Patientin, die mit mir auf dem Zimmer liegt, erzählt mir, dass sie auf Grund des Ärztestreiks bereits seit mehreren Tagen auf ihre Operation wartet. Wird mir dies ebenfalls geschehen? Das darf doch nicht sein, oder? Jeder Tag warten würde bedeuten, dass der Krebs immer tiefer in mich dringen könnte. Ich möchte mit der Therapie beginnen, damit die Heilung einsetzen kann und ich den ersten Schritt für mich angehen kann. Ich muss an diesem Tag lange auf die Operation warten. Vor Flüssigkeitsmangel wird mir ganz schwindelig. Erst am späten Nachmittag geht es los.

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 Als ich aufwache, gilt meine erste Frage meinen Lymphknoten. Wie lautet der Befund, sind sie frei von Krebszellen? Ich habe großes Glück, sie sind frei von Krebszellen. Vor Erleichterung kullern mir die Tränen aus den Augenwinkeln, also war mir das Ergebnis doch nicht so egal. Kurz darauf schlafe ich erneut ein und bekomme nur am Rande mit, dass Maria zu einem kurzen Besuch bei mir vorbeischaut und meine Familie darüber informiert, dass ich die Operation gut überstanden habe.

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 Am nächsten Morgen erfahre ich beim Frühstück, dass meine erste Chemotherapie für 12:00 Uhr angesetzt ist. Die erste von sechs, jeweils im Abstand von drei Wochen. Als es soweit ist, begebe ich mich bangen Herzens zur onkologischen Tagesklinik, die im selben Klinikteil untergebracht ist wie die gynäkologische Station.

 Die Narkose vom Vortag habe ich noch nicht richtig verarbeitet. Mir ist schwindelig. Ich nehme all meinen Mut zusammen und trete in den vor mir liegenden Raum ein. In einer Runde stehen dicht an dicht große Ledersessel, die vereinzelt belegt sind. Grau anmutende Gesichter blicken mir entgegen.

 Auf der anderen Seite des länglichen Raums steht ein großer Schreibtisch, an dem zwei Krankenschwestern sitzen. Bei ihnen melde ich mich an. In einem Nebenraum wartet eine Ärztin auf mich. Sie sticht mir den Port zum ersten Mal an. Nun steckt eine kleine Nadel in mir, die mit einem dünnen Schlauch verbunden ist. Meiner zweiten Nabelschnur.

 Von den Schwestern bekomme ich anschließend einige Medikamente in die Hand gedrückt, für die nächsten Tage. Ich muss mir aufschreiben, wann und wie ich diese zu nehmen habe, um nichts zu vergessen. Ich suche mir einen Platz in der Runde der grauen Gesichter. Eine der Schwestern schiebt einen Infusionsständer an mich heran und einen Tisch, auf dem diverse Infusionen liegen. Als erstes bekomme ich eine Lösung über den Port aus Cortison und Fenistil gegen Übelkeit und um allergische Abwehrreaktionen zu vermeiden. Nach deren Einlaufen wird der erste Beutel der Chemotherapie angeschlossen. Ich beobachte jeden einzelnen Tropfen der in mich fließt und stelle mir vor, wie sie in meinen Blutkreislauf gelangen und nach und nach meinen Körper durchfluten. Nach dem ersten Beutel Chemotherapie folgen 500ml Kochsalzlösung zur Verdünnung, wie mir erklärt wird. Aha... Ein weiterer Beutel Chemolösung folgt, anschließend erneut 500ml Kochsalzlösung. Ich werde unendlich müde, weiß kaum noch wo mir mein Kopf steht. Als dritter Teilbestand der Chemotherapie wird mir eine rote Flüssigkeit durch den Port injiziert - meine Margarita der besonderen Art. Und nun zum endgültigen Abschluss, tropfen erneut 500ml Kochsalzlösung in meinen Blutkreislauf. Ich schwimme innerlich davon...

 Zwischenzeitlich habe ich zum Schutz der Nerven meiner Hände schwere Kältehandschuhe erhalten, die ich mir dank Tipps aus dem Internet erbeten habe (ich sollte noch häufiger erleben, dass es als Patientin sehr wichtig ist, sich unabhängig zu informieren und sich manches einzufordern, da der, der es doch wissen sollte, nicht unbedingt an dich weitergeben wird. So werde ich zum Beispiel in der darauffolgenden Woche einen Termin bei meinem Zahnarzt wahrnehmen, um meinen Zahnstatus kontrollieren zu lassen.

 Die TAC-Chemotherapie (Docetaxel, Adriamycin und Cyclophosphamid), ist eine der aggressivsten Chemotherapien, die es im Kampf gegen den Brustkrebs gibt, mit schweren toxischen Nebenwirkungen. Sie wird bevorzugt bei Frauen mit einem sehr aggressivem oder einem bereits metastasierenden Krebs angewandt. Ich weiß von vielen der Nebenwirkungen. Dem Verlust meiner Haare, Nervenschädigungen, Schleimhautveränderungen, Magen- Darmproblemen, Übelkeit, Erbrechen, Blutbildveränderungen, Schädigungen des Herzens, Müdigkeit und manch anderen die auftreten können...

 

Für meine erste Chemotherapie, habe ich über vier Stunden in diesem Sessel verbracht!

 

 Zu Anfang habe ich das Geschehen um mich herum verfolgt. Dabei habe ich an der Anmeldung Eindrücke von Seiten der Krankenschwestern erhalten, die in meinen Augen mehr als unangemessen waren. Sie unterhielten sich lautstark über Anrufer und unbequeme Patienten, um die Unmöglichkeit deren Begehrens und vor allem in Bezug zu ihrer eigenen Überarbeitung. Zum Abschied bekomme ich den Termin der nächsten Chemotherapie in drei Wochen mitgeteilt und dem dringenden Hinweis, mir in der folgenden Woche bei meine Blutwerte testen zu lassen. Wenige Tage vor der zweiten Chemotherapie, solle ich ein zweites Blutbild bei meiner Frauenärztin erstellen lassen und die Ergebnisse solle diese dann der Tagesklinik zufaxen, werde ich instruiert. Meine Ärztin würde schon wissen, welche Werte gefragt sind. Falls die Leukozyten im Blut zu niedrig sind, kann keine Chemotherapie erfolgen. Aha, denke ich mir ein weiteres Mal...

 Am Ende der Sitzung schwanke ich im wahrsten Sinne zurück auf die gynäkologische Station und wünsche mich einzig und alleine nach Hause in mein Bett. Susanne wartet auf Station bereits auf mich, um mich sicher nach Hause zu begleiten. Einen Arztbrief erhalte ich nicht, da dieser noch nicht fertiggestellt ist. Und das sollte sich noch als Wagnis ohne gleichen herausstellen.

 Susanne ist schwer zu bremsen mich von vorne bis hinten zu umsorgen. Dabei möchte ich einzig alleine sein, weiß ohnehin, dass meine Mutter nach ihrer Arbeit bei mir vorbeischauen wird um zu sehen, wie es mir geht. Sanft bitte ich Susanne zu gehen. Ruhe kehrt in mich, alle Anspannung der vergangenen Wochen scheint von mir gefallen zu sein. Ich fühle in mich hinein. Die Angst ist weg... Der erste und so wichtige Schritt in Richtung Heilung ist vollbracht.

 Frisch geduscht kuschele ich mich in mein Bett. Das Duschen ist ein dringender Versuch mich von der Operation zu reinigen und den chemischen Geruch, der an mir haftet, loszuwerden. Der ist kaum zu beschreiben, scheint aus all meinen Poren zu dringen. Ich genieße es, das meine Mutter nach mir schaut. Sie bleibt nicht lange, wir sind eh für den Samstagnachmittag des folgenden Tages verabredet. Mir fallen vor Müdigkeit immer wieder die Augen zu. Die Nacht endet jedoch früh. Durchgehender Schlaf scheint sich keiner mehr einstellen zu wollen. Wie ich später erfahre, liegt das an dem Cortison, welches ich zur Chemo begleitend bekomme, um allergische Reaktionen zu vermeiden. So starte ich frühmorgens mein Laptop und verfasse in einem Post auf Wer-kennt-Wen, die neuesten Geschehnisse der letzten Tage. Das Schreiben hilft mir ungemein, tat es schon immer gerne in Briefen und vor allem in meinen Tagebüchern. Es hilft mir mich zu zentrieren. In diesen Tagen erreichen mich viele Gästebucheinträge über Wer-kennt-Wen. Viele Mails, die mir Mut machen. An dieser Stelle nur zwei von vielen:

 

25.5.2010

Diana, eine Cousine

 

Liebe Nicole,

 ich wünsche dir von ganzem Herzen die Kraft zum Bewältigen und das Verständnis zum Zulassen dieser weiteren schweren Prüfung in deinem Leben. Es gibt Zeiten und Situationen, da versteht man den Sinn einfach nicht, es fehlt der Zusammenhang zum Ganzen. Ich wünsche mir für dich, das du nicht an der Frage nach dem „Warum“ zerbrichst, sondern dem „Warum“ mit einem „Darum“ die ganze Wucht deines Lebenswillens entgegenschleuderst! Und ich würde mir wünschen, dass du, ungeachtet was andere darüber denken und sagen, dein Tagebuch weiterführst. Nicht weil ich wissen möchte wie du dich fühlst und wie es dir geht( das schon, aber nicht aus Sensationslust – denn du bist ein Teil meiner Familie)...sondern, weil ich glaube, dass es dir Kraft schenkt, deine Gedanken zu ordnen und Struktur in die turbulente, schwere Zeit zu bringen!

 

Diana

 

29.5.2010

Katrin, ebenfalls eine Cousine

 

Guten Morgen du tapferer Sonnenschein!

 So früh schon auf den Beinen? Ich hoffe dir geht es soweit gut? Habe die letzten beiden Tage, wie eigentlich auch die Tage davor, nur an dich gedacht. Genau wie alle anderen auch. Ich bewundere dich, auch wenn du das vielleicht nicht hören magst. Peter hat nach der Diagnose zu mir gesagt: „Wenn es jemand schafft, dann Nicole!“. Es ist wahrscheinlich schwer, wenn man von allen diesen Stempel aufgedrückt bekommt. Aber es zeigt einfach, wie sehr wir alle an dich glauben. Und wenn sogar die Ärzte schon erkannt haben, das du kein „normaler“ Patient bist...;-) Wir sind für euch da, für dich und für Justin. Wann immer ihr etwas braucht, melde dich. Jetzt hoffe ich sehr, das die ersten Folgen der Chemo dich nicht allzu sehr erwischt haben. Ich umarme dich und schick noch einen extra Schmatz für deinen Summsemann mit.

 

Hab euch lieb!

Katrin

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 Stunden später fühle mich noch immer ein wenig high, aber es geht mir erstaunlich gut. Mit meiner Mutter fahre ich Nachmittags in die Stadt zu meinem Lieblingscafé und wir essen dort eine Kleinigkeit, ehe wir wieder nach Hause fahren. Aber ich war draußen, habe mich ein wenig bewegen können und gesehen, dass das Leben dort draußen noch immer schön ist. Brav nehme ich die mitgegebenen Medikamente ein. Hauptsächlich Cortison und Medikamente gegen die Übelkeit, die bislang zum Glück noch nicht in Erscheinung getreten ist. Aber auch Selen und Aufbaupräparate, die mir meine Frauenärztin Frau Dr. P mitgab.

 Die Übelkeit sollte dafür am Sonntag zuschlagen. In einem Umfang, dass es mir nicht möglich ist, Justin wie geplant an diesem Tag nach Hause kommen zu lassen. Mir ist zum Brechen übel und ich habe einen widerlich fauligen Geschmack im Mund, verursacht von dem Cortison. Die Tropfen gegen die Übelkeit helfen in keinster Weise. Mein Geruchssinn schlägt Purzelbäume. Das ich keinen Appetit habe, finde ich nicht tragisch, aber das ich nichts trinken kann ist eine Belastung. Irgendwie überstehe ich den Tag eingekuschelt auf meinem Sofa und hoffe, dass der nächste Tag Linderung bringen wird. Bei der Aussicht diesen fürchterlichen Geschmack nicht los zu werden über die Zeit der Chemotherapie, mag ich noch gar nicht weiter drüber nachdenken. Ein simpler Schluck Wasser schmeckt nach faulem Ei. Bäähhh...

 Montagfrüh rappel ich mich auf um in die Klinik zu fahren. Das Markieren der Tumore steht an. Meine Brust um das Tumorgebiet wird betäubt, ehe ein Clip an den größeren Tumor eingebracht wird. Das Einbringen tat nur ein klein wenig weh. Der zweite sei derzeit noch nicht nötig, heißt es. Ich bin ein wenig verwundert und äußere meine Bedenken hinsichtlich des zweiten Clips und erwähne die Empfehlung von Oberarzt Herr Dr. H aus Frankfurt, beide Tumore möglichst früh zu markieren. Mir wird versichert, dass dies definitiv nicht nötig sei und wir die zweite Clipmarkierung wie geplant nach der zweiten Chemotherapie durchführen werden, dass sei immer noch früh genug. Auf Grund der Clipmarkierung ist eine weitere Mammographie nötig für das Protokoll. Schön, denke ich mir, auf die eine Strahlenbelastung mehr kommt es nun vermutlich auch nicht mehr an. Anschließend gehe ich in der Tagesklinik vorbei in der Hoffnung, dass man mir in Bezug Übelkeit unter Umständen ein weiteres Mittelchen verordnen kann. Mir ist noch immer elend zumute.

 

 Am Nachmittag ist mein Sohn endlich wieder Zuhause. Wie schön es ist, ihn um mich zu haben. Meinen Summsemann. Den Namen hat er sich wahrlich verdient – schon als ganz kleiner Junge summte er in tiefen Tönen vor sich hin. Ausdruck und Zeichen höchster Zufriedenheit, Freude oder wenn das Leben mal wieder ganz spannend für ihn ist. Aufgeregt und zutiefst besorgt, lässt er sich von mir meine beiden Pflaster zeigen, fragt auf seine Art, wann meine Haare „fott“ sind. Er scheint den Verlust meiner Haare im Augenblick ganz spannend zu finden und freut sich darauf, bald eine Mama ohne Haare an seiner Seite zu haben. Ich befürchte sehr, dass dies schon zu bald der Fall sein wird. Aus den Internetforen habe ich in Erfahrung gebracht, dass man mit dem Beginn des Haarverlusts um den dreizehnten Tag nach der ersten Chemotherapie rechnen kann.

 Meine Mutter kommt am Abend nach ihrer Arbeit vorbei, um mich mit Justin zu entlasten. Wenn da nur mein Geruchssinn nicht wäre. Meine Mutter ist Raucherin und der Zigarettengeruch an ihr treibt mich ohne Umweg auf die Toilette. Fast schäme ich mich dafür, möchte ich doch nicht das sie denkt, dass ich etwas gegen sie habe. Ich bin so froh, dass sie da ist, mir hilft und uns unterstützt. In den kommenden Monaten wird mein Geruchssinn ein immer stärkeres Problem werden. Ich fühle mich in die Zeit meiner Schwangerschaft versetzt, in der ich ein ähnlich ausgeprägtes Problem mit Übelkeit und meinem Geruchssinn hatte, nur das ich diesmal mit mir schwanger bin und nicht mit meinem Kind. In zunehmendem Maß wird mir vom Geruch meines Sohnes bitterlich übel werden, generell von anderen Menschen, selbst vom Duft frisch gewaschener Wäsche oder gar von meinem eigenen, der sich in dieser Zeit nachhaltig so sehr verändern sollte.

 Meiner Mutter und jüngsten Schwester gebe ich in diesen Tagen viele Pflegeprodukte mit, trenne mich von bisherigem - zum Beispiel meinem Lockenstab, den größten Teil meines Haarschmucks, Parfums, die für mich in den kommenden Monaten gegenstandslos sein werden. Trenne mich von meinen tief dekolletierten Kleidern und Blusen. Ich denke nicht, dass ich sie jemals wieder tragen werde. Dann sollen sie lieber jemand anderes Freude bereiten und nicht als gesichtslose Gespenster in meinem Schrank bedauern auslösen, wenn mein Blick auf sie fällt. In dieser Richtung habe ich es den beiden sicher sehr schwer gemacht. Aber ich bin so - wenn etwas vorbei ist, dann trenne ich mich davon. Mit Menschen gelingt mir das nicht so gut, aber mit Dingen um mich herum schon. Ich mag es gerne aufgeräumt in meinem Leben.

 

 Da meine Haut in den kommenden Monaten sehr empfindlich werden wird, habe ich mich auf Grund dessen vorsorglich mit Produkten für hochsensible Haut aus der Apotheke versorgt. Weitere Auflagen in den kommenden Monaten werden unter anderem sein, größere Menschenansammlungen auf Grund meines heruntergefahrenen Immunsystems zu vermeiden, um Infektionen zu verhindern. Die Vermeidung von Sonnenstrahlung, generell große Wärme und nichts schweres zu heben. Zum Vorbereiten auf die Zeit der Chemotherapie gehörte für mich ebenfalls dazu, mich mit schönen Schals, Tüchern und Beanies einzudecken, da für mich von Anfang an klar war, dass ich keine Perücke tragen werde. So manch einer meinte in den kommenden Monaten: „Ach, versuch es doch mal, manche Perücken sehen wirklich ganz toll aus und andere merken gar nichts davon, dass du Krebs hast!“. Diesen Personen musste ich nachdrücklich immer wieder erklären, dass ich mich bewusst gegen eine Perücke entschieden hatte. Ich habe von Natur aus wunderschöne, platinblonde Haare und kenne mich zu gut um zu wissen, dass ich mich mit Perücke nicht wohl fühlen würde. Es wird auch ohne Perücke gehen und es gibt keinen Grund, mich zu verstecken oder gar zu schämen. Durch Justin bin ich es ohnehin gewohnt in der Gesellschaft aufzufallen. So trage ich mein Köpfchen eben noch ein Stückchen weiter oben als bisher.

 

 Mit meiner Mutter habe ich in diesen ersten Wochen nach der Diagnose ein klärendes Gespräch führen können. Eines, das mich mit vielem aus den vergangenen Jahren versöhnte. Ich konnte ihr in ruhigen Worten erklären, dass ich mich in der Vergangenheit von ihr alleine gelassen gefühlt habe. Sie wusste sehr wohl, dass es mir im vergangenen Jahr alles andere als gut ging und ich in den Jahren zuvor Hilfe und Unterstützung gebraucht hätte, die sie mir jedoch nicht geben konnte. Sie war der Meinung, das es reichen würde mir am Telefon zuzuhören und erkennt nun voller Bestürzung, dass dies nicht ausreichend war. Das es ein leichtes für sie gewesen wäre öfter bei uns vorbeizuschauen, sie jedoch auf meine Stärke vertraute. Ihre Entschuldigung um ihr Versäumnis, fühlt sich befreiend an.

 In diesem Gespräch kann ich ihr gegenüber zum ersten Mal in Worte fassen, welche Ahnungen mich im letzten Jahr begleitet haben. Welch zerbrechliches Glück es doch ist, dass meine Mutter vier gesunde Kinder hatte. Das ich ganz tief in mir gewusst habe, dass etwas Grundsätzliches mit mir nicht stimmte. In diesen Tagen beginne ich zu begreifen, dass ich zwar DIREKT mit der Diagnose Brustkrebs konfrontiert wurde - ich diejenige bin, die die Untersuchungen, die Gespräche mit den Ärzten, der Angst vor der Krankheit, den Schmerzen und den Veränderungen an mir auszuhalten hat - mein Umfeld aus zweiter Linie aber ebenso und nicht nur mein Sohn. Ich beginne zu begreifen, dass meine Familie und Freunde Angst um mich haben. Angst, mich an den Krebs zu verlieren. Einer Angst um mich, die ich nicht tragen möchte. Es ist mir wichtig, dass sich manch einer nicht zu sehr in der neuen Situation verliert, meine Erkrankung nicht zu seiner Geschichte macht. Ich werde Unterstützung benötigen, vor allem im Hinblick zu Justin. Ich werde aber ebenso darauf achten, dass jeder bei sich bleibt und ich mir meine Autonomie wahre. Ich manch einem nur das Zumuten werde, was er aus meiner Sicht tragen kann. Und ich die angebotene professionelle Hilfe nutzen werde, für die schwersten Gespräche - einer Psychoonkologin.

 

Kapitel 6

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