II

 

 In den folgenden Tagen versuchte ich so viel Normalität als möglich in unseren Alltag fließen zu lassen und alle Termine, die ich mit meinem Sohn zu absolvieren hatte, wahrzunehmen. Innerlich hegte ich die leise Hoffnung, dass sich diese Tage voller Angst und Unsicherheit als ein böser Traum entpuppen würden. Dass ich von all diesem Schrecklichen, dass sich hinter dem Wort Krebs verbirgt, verschont bleiben möge.

 

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 Mein Sohn Justin wurde im April 1997 mehrfachbehindert geboren. Er ist frühkindlicher Autist, Tetraspastiker, inkontinent, seh- und sprachbehindert mit allen Einschränkungen und Folgeschäden, die dazugehören. Dennoch habe ich immer gesagt, dass wir trotz allem großes Glück gehabt haben. Vieles hätte schlimmer sein können. Und dass ich, solange ich gesund bin, alles bewältigen kann.

 Justin ist in seiner Welt glücklich. Er ist ein fröhlicher und ausgeglichener Junge mit ganz speziellen Bedürfnissen an mich und seine Umwelt. Die ersten Jahre waren sehr schwierig, sind es in anderer Form auch heute noch. Darüber gibt es keinen Zweifel.

 Da war der Umstand für mich, als Mutter mein Kind in seiner ganz eigenen Art anzunehmen. Ganz zu schweigen von dem Kind, das Frau sich als Schwangere erträumte und bereits in ihren Gedanken in den Armen wiegte Abschied zu nehmen, da dieses Kind nie geboren wurde. Eine andere Form der Trauer und des Schmerzes. Aber auch eine unendlich tiefe Liebe zu diesem wunderbaren Jungen, der mich so unendlich viel über mich selbst und das Leben lehrte. Nicht zu wissen, wie sich die Jahre mit einem schwer behinderten Kind gestalten werden, wie sich dieses entwickeln wird. Sich die Frage zu stellen, welche Chancen mein Kind in seinem Leben überhaupt wahrnehmen wird können - das war hart!

 Wie sollten wir unseren Alltag gestalten? Würde ich wieder arbeiten können? Wie meinem Kind und mir gerecht werden - bei allen Anforderungen die das Leben an uns stellte? Die ganze vielfach bewunderte und selbstverständliche Entwicklung eines Babys zu einem Kleinkind und darüber hinaus zu erleben, das gab es für mich nicht. Wie unserer Gesellschaft begegnen und mit Ausgrenzungen umgehen, die es ja teilweise schon in der Familie gab, weil diese völlig verunsichert im Umgang mit einem Menschen sind, der anders ist als Sie?

 

 Große Reden konnte manch einer schwingen, an der Umsetzung haperte es jedoch zumeist. Mir wurde Bewunderung für meine Stärke zugesprochen. Worte, die irgendwann einfach nur noch schal schmeckten. Wir standen weitestgehend alleine da, lernten damit umzugehen und suchten uns einen eigenen Lebensweg. Abseits von der mehrspurigen Autobahn der anderen waren wir dafür gemächlicher auf Landstraßen unterwegs - verfuhren uns dabei hin und wieder oder legten gar einen Halt ein, um an besonders schönen Plätzen inne zu halten und sahen manch einen an uns vorbeirauschen, der kaum einen Blick für uns übrig hatte.

 

 Erschwerend kam in den ersten Jahren hinzu, dass der Vater meines Sohnes nichts weiter mit uns zu tun haben wollte, da ein behindertes Kind nicht in sein Weltbild passte. Das war eine bittere Erfahrung für mich. Selbstverständliches wie Unterhalt für meinen Sohn musste ich mir in den kommenden Jahren immer wieder mit anwaltlicher Hilfe erkämpfen, von einer  eventuelle Entlastung in der Erziehung und Verantwortung von Seiten des Vaters gar nicht zu reden. Es ging mir nicht um den Partner den ich verloren hatte, ich vermisste den Vater für meinen Sohn, den er so dringend benötigt hätte! Justins Vater verabschiedete sich kurz nach der Scheidung mit den Worten: "Haltet euch aus meinem Leben raus. Ich wünsche keinen Kontakt. Zu solch einem Kind kann ich keine emotionale Bindung aufbauen!"

Aus all diesen Gründen zog ich mich nach und nach aus dem engeren Kreis der Familie zurück. Der Einschulung meines Sohnes wegen, zog ich leichten Herzens 2003 von Hessen in das gut 50 km entfernte Unterfranken an den Main.

 Abstand bedeutet manchmal eine Wohltat. In Aschaffenburg fand ich relativ schnell eine Tätigkeit im Bereich Buchhaltung in einem Sanitätshaus, welches es mir ermöglichte, dass ich in den Ferienzeiten Justins verkürzt arbeiten konnte, da die Betreuungsmöglichkeiten für behinderte Kinder sehr teuer sind. Es gibt gewisse Möglichkeiten der Entlastung wie Budgets der Verhinderungspflege über die Krankenkassen, die eigentlich für diese Zwecke nicht eingesetzt werden dürfen, da diese einzig der Entlastung der pflegenden Person dienen sollten, aber - was blieb mir stellenweise anderes übrig? Nicht viel, wenn ich einer beruflichen Tätigkeit nachgehen wollte.

 Meine Abende verbrachte ich zumeist Zuhause, meine schönsten Jahre als Frau ohne Partner. Einen solchen vermisste ich oft in diesen Jahren. Die starke Schulter zum Anlehnen fehlte. Der Mann, mit dem vermeintlich alles möglich hätte sein können. Geliebter und Freund. Geborgenheit, Nähe, Wärme, Lachen, Unbeschwertheit. Am Kennenlernen scheiterte es nicht einmal. Aber an allem weiteren. Dachte so manches Mal, dass mir für die Liebe das gewisse Etwas fehlt. Ich vermisste Kunst, Kultur, gesellige Abende mit Freunden als Ausgleich in meinem Leben.

 Auf der anderen Seite war das Leben mit meinem Summsemann, dass ich uns so bunt als möglich gestalten wollte. Wir waren viel in der freien Natur zum Spazieren, Spielen, Erkunden oder mit Justins Spezialdreirad unterwegs.

 Wir besuchten Kindertheater, entdeckten das Kino für uns, fuhren einfach zu Justins Vergnügen mit dem Zug nach Frankfurt oder Würzburg und schauten, was es dort für uns zu entdecken gab - das Ganze mit einem Rolli bewaffnet, den er für längere Strecken auch heute noch benötigt. Wir waren nahezu jedes Wochenende unterwegs und ich genoss diesen zunehmend freien Horizont für uns sehr. Es war soviel mehr, als die Ärzte mir für meinen Sohn in Aussicht gestellt hatten über den es hieß, dass er niemals sprechen lernen würde (heute spricht er in seinem Sprachbild), vermutlich niemals Laufen wird, dass er ein Haus von einem Baum nicht wird unterscheiden können, keine Zuneigung zu anderen oder gar zu mir zeigen können wird. Die Ärzte sprachen in dieser und ähnlicher Weise über meinen Sohn und ich wollte dies in dieser Form nicht stehenlassen - und kämpfte für ihn!

 

 Justins Lebensjahre waren von klein auf an von Therapien geprägt. Therapien, die ich neben den Therapeuten an ihm durchführte. Jeden Tag! Sehtraining, Vojita (Reflexanbahnung), Bobath (Therapiekonzept für Kinder und Erwachsene mit neurologischen Erkrankungen), Schwimmtraining, Lautanbahnung, Ergotherapie, ganz allgemeine Erziehung oder ihm das Spielen nahebringen, da es ihm nicht möglich war, das Verhalten anderer Kinder nachzuahmen. Das Werkzeug, über das Kinder normalerweise spielerisch lernen, sich selbst erproben um sich ihre Welt zu erobern. Jedes kleine Kind ist für sich der Mittelpunkt der Erde, um den sich alles andere dreht. Justin hingegen war ein kleiner Satellit, der außerhalb unserer Welt um uns kreiste. Wie hab ich es manchmal gehasst mehr Therapeutin für meinen Sohn zu sein, als ganz einfach Mama sein zu dürfen. Wir beide waren manches mal am Zerbrechen. Über die Jahre habe ich jedoch gelernt, ein gesundes Mittelmaß in diesem Therapiemarathon zu finden und mein Sohn zeigte mir mit seinen Fortschritten, dass ich richtig gehandelt hatte. Jeder noch so kleine Fortschritt konnte uns eine neue Tür öffnen, ein kleines Stück neuen Freiraum ermöglichen.

 

 Justin gab ich als Lebensmaxime mit auf den Weg: „Wenn WIR zusammenhalten, können wir ganz viel erreichen!“ Justin ist mein Sohn. Da gab und gibt es für mich kein wenn und aber!

 

 Im April 2008 wurde mein Sohn einer sogenannten Mehretagenoperation an beiden Beinen und Füßen unterzogen. Dies war ein Schritt, zu dem ich mich nach vielen Gesprächen mit Justins Ärzten und Therapeuten entschloss. Bei dieser Operation wurden seine Beine oberhalb seiner Knie im knöchernen Bereich durchtrennt und so gedreht, dass diese begradigt wurden. Seine Beine standen bis zu diesem Zeitpunkt in einer extremen X-Beinstellung. Seine Wadenmuskulatur wurde verlängert und die Knochen seiner Füße so umgebaut, dass ein neues Fußgewölbe entstand und seine Spitzfüße behoben wurden. Mit dieser Operationstechnik sollte es meinem Sohn ermöglicht werden, auch weiterhin laufen zu können und darüber hinaus sein Gangbild zu stabilisieren und die Folgeschäden an Skelett und Muskulatur zu verringern. Nach drei Monaten Klinik und Reha konnten wir endlich wieder nach Hause. Welch eine Erleichterung für meinen zutiefst traumatisierten Sohn und mich!

Von nun an ging es weiterhin jeden Tag zur Krankengymnastik, da das Laufen (anfänglich am Rollator) und Stehen erst mühsam neu erlernt werden mussten. Um das Ergebnis der Operation nicht zu gefährden, durfte Justin nur ein gewisses Maß an Stunden am Tag sitzen, maximal drei mal zwei Stunden. Justin musste viel Zeit auf dem Bauch liegend verbringen, da dies dem Stehen am nächsten kommt. Auf diese Weise sollte verhindert werden, dass die Muskulatur und Sehnen seiner Beine und Füße erneut verkürzen.

 Jeden Tag verschaffte ich Justins Beinen Linderung in Form von Lymphmassagen, versorgte seinen offenen Dekubitus an seinem rechten Fuß und den beiden Achillessehnen, die er sich in der Gipsversorgung in der Klinik einhandelte. Ich tröstete seine Kinderseele, die in dieser Zeit so viel Schmerz aushalten musste. Päppelte meinen Bub langsam wieder auf. Unser Aktionsradius war auf nahezu null geschrumpft.

 Meine berufliche Tätigkeit hatte ich auf Grund dessen, dass ich meinen Sohn in die Klinik begleitete verloren, nachdem der von mir zuvor beantragte, unbezahlte Urlaub nicht gewährt wurde.

 

 Im Oktober 2008 war Justin bereits soweit gewachsen, dass die Schrauben in seinem linken Oberschenkel nicht mehr richtig saßen und die Muskulatur an der Innenseite des Beines reizten. Zum Entfernen der Platten war es zu diesem Zeitpunkt jedoch noch zu früh, da die Knochen noch nicht ausreichend zusammengewachsen waren. Fortschritte die Justin zu diesem Zeitpunkt gemacht hatte, wurden auf Grund der Schmerzen wieder rückläufig. Zeitweilig konnte er nahezu gar nicht mehr laufen. Ich war am Verzweifeln. Es ging nichts voran und ich bereute meine Entscheidung zu dieser Operation zutiefst!

 Mitte März 2009 erfolgte die zweite Operation für Justin. Das Metall wurde beidseitig entfernt, erneut wurden Verlängerungen der Wadenmuskulatur vorgenommen, Muskelgruppen in den Oberschenkeln versetzt und die Adduktoren der Hüftbeuger verlängert. Das klingt brutal und das war es auch, wenn auch nicht so sehr wie die Operation elf Monate zuvor. Anhand der Vergleichsbilder der Ganganalyse von einem Jahr zuvor, ließ sich nun aber auch ersehen, dass trotz aller Schmerzen und Einschränkungen eine deutliche Verbesserung in seinem Gangbild auszumachen war, von dem Zeitpunkt vor den Operationen. Das machte Hoffnung für alles Kommende!

 Meinen 40. Geburtstag der in diese Zeit fiel, begrüßte ich nachts im Elterntrakt der Orthopädischen Universitätsklinik allein, indem ich früh zu Bett ging und mir vor lauter Erschöpfung die Decke über den Kopf zog. Nachmittags fuhr ich von der Heidelberger Uni-Klinik nach Aschaffenburg und traf mich im kleinen Kreis zu einem Essen in der Altstadt. Am nächsten Morgen fuhr ich direkt wieder zurück in die Klinik. Zu meinem Sohn, der mich schon sehnlichst erwartete. Ursprünglich hatte ich eine größere Geburtstagsfeier geplant. Mit Musik und Tanz. Ich kann jetzt noch nicht mal sagen, dass ich enttäuscht war, dass diese nicht stattfand.

 Der Klinikaufenthalt nach der zweiten Operation dauerte zum Glück nur 10 Tage. Mit neuen Auflagen ging es diesmal direkt nach Hause. Nach Absprache mit den Ärzten durften wir auf die Reha verzichten, da ich das volle Vertrauen der behandelnden Ärzte besaß. Sie wussten, dass Justin jeden Tag sein Pensum an Krankengymnastik erhielt, dass er Rad zur Kräftigung seiner Muskulatur fuhr, regelmäßiges Schwimmen, Reiten, Treppensteigen übt und so weiter. Hinzu kamen die regelmäßigen Termine in Heidelberg zum Kontrollverlauf, zur Orthesen- und Nachtlagerungsschienen Anpassung usw.

 Justin hatte nun endlich keine Schmerzen mehr in seinen Beinen und erholte sich erstaunlich schnell von der zweiten Operation. Seine Fortschritte waren nun in kurzer Zeit auszumachen, sodass wir unser Krankengymnastik-Pensum etwas herunterschrauben konnten und Justin im Mai wieder die Schule besuchen durfte. Nach über einem Jahr konnte ich endlich wieder Luft holen. Und stellte entsetzt fest, dass ich nur noch ein reines Nervenbündel war. Mir war alle Kraft abhandengekommen und ich war so müde wie noch nie zuvor in meinem Leben. Es hat Zeit gekostet mich aus diesem Tief herauszuholen. Bald ein Jahr...

 

 Mein Hausarzt, den ich auf Grund meiner tiefen Müdigkeit aufsuchte und um Rat bat und mein Blutbild checken zu lassen war der Ansicht, dass dies alles nicht notwendig sei. Ich solle besser eine Therapie machen, da ich depressiv sei. Alles andere könnten wir uns sparen bei meinem Hintergrund als alleinerziehende Mutter eines behinderten Kindes. Eine beantragte Reha wurde mir aus dem Grund einer vermuteten Depression ebenfalls abgelehnt. Heute bin ich davon überzeugt, dass der Krebs sich in dieser Zeit rasant in mir entwickelte und mir in Form einer Fatique derart meine Kraft raubte. In meine linke Brust, die mir so sehr vertraut war. Auf ihre Art selbstverständlich. Also begann ich eine Therapie mit dem Ergebnis, dass ich nicht depressiv war. Aber zutiefst erschöpft. Welch ein Wunder.

 Was tun, da es offensichtlich war, dass es erneut an mir lag eine Lösung zu finden, einen Weg aus dieser alles erdrückenden Müdigkeit und neue Lebenskraft zu schöpfen? Ein tiefes in mich gehen war angesagt. Was könnte mir Kraft und Mut schenken? Was möchte ich für mich erwirken? Wie der Nicole von „Früher“ Raum geben, die es in mir sicherlich noch immer gab? So kam ich für mich zum Zen und zum Yoga.

 Aber auch alte Verwundungen aus dem Kreis der Familie brachen erneut auf, nagten an mir, obgleich diese doch abgeschlossen schienen. Unerwünscht, da auch diese wieder Kraft kosteten und von mir doch gar nicht mehr angeschaut werden wollten. Es war alles furchtbar zäh. Ich konnte mich an manchen Tagen selbst nicht mehr leiden.

 Wünsche und Vorstellungen, wie ich mein weiteres Leben gestalten wollte, taten sich langsam auf. Mehr Achtsamkeit für mich, kleine Reisen unternehmen. Zeit mit Freunden verbringen, einen neuen Job suchen, Justin auf das Internat 2012 vorbereiten.

 So unternahm ich unter anderem zum ersten Mal seit vielen Jahren eine Wochenendreise. Besuchte mit Freundinnen Hamburg, später im September Berlin. Die Stadt erkundete ich mit meiner jüngsten Schwester, die sich zeitgleich zu einem Seminar in der Stadt aufhielt. Von solchen Erlebnissen wollte ich mehr haben. Ausstellungen besuchen, Konzerte. Wieder malen. Eigene Wege gehen, ein klein wenig mehr Freiraum finden.

 Zur Ruhe kommen war einer meiner größten Wünsche. Für mich war schon lange klar, dass ich so manches in meinem Leben vermisste wie Nähe, Wärme und Geborgenheit. Das ich mir diese vielleicht auch von jemand anderes wünschte entgegengebracht zu bekommen, aber nicht erwarten durfte. So wie ich heute noch davon überzeugt bin, dass die Essenz zum Glücklichsein allein in mir liegt.

 Dass es meine Aufgabe ist, dass Kind in mir aufzufangen und auszusöhnen. Dem Kind in mir neuen Raum geben. Ihm eine Sprache, eine neue Form des Ausdrucks schenken. Ich wollte nicht mehr nur funktionieren, wie in den vergangenen Jahren.

 

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 Zu dieser Zeit festigte sich die Freundschaft zu Dieter, von mir genannt Karlsson. Dieter lernte ich im November 2008 über eine Flirt Line im Internet kennen. Er wohnt wie wir in Aschaffenburg, gar nicht weit von uns entfernt. Der Blitz der Liebe traf uns nicht, dafür eine wunderbare Seelenfreundschaft. Mit ihm zusammen lässt es sich wunderbar Lachen, Weinen, Philosophieren oder einfach nur herrlich schräg drauf sein.

 Karlsson ist eine meiner Lieblingsfiguren Astrid Lindgrens und ich hatte mir schon als Kind einen Freund gewünscht, der seinen liebenswerten Charme versprüht. Der auf seine Art frei ist und mich mit auf sein Dach nimmt, hoch oben über der Stadt der Erwachsenen. Dieter verbindet diesen Aspekt für mich mit seinen blauen Augen, seinem Lockenschopf und seinem sein.

 Dieter oder Karlsson, wie ich ihn auch hier lieber nennen möchte, bestärkte mich von Beginn unserer Freundschaft an dahingehend, dass meine Einstellung, die kleinen Dinge des Lebens wertzuschätzen zwar sehr löblich sei, ich aber doch auch endlich die große Torte in Anspruch nehmen und mich nicht immer nur mit einem kleinen Stück zufrieden geben sollte. Klingt wunderbar, aber wie umsetzen, wenn das eigene Leben dermaßen eingeschränkt zu sein scheint? Wie in das pralle bunte Panorama springen, wenn man sich über so lange Zeit als Person zurückgenommen hat? Und ich die Kraft zum Weitermachen aus den kleinen Dingen des Lebens gewonnen hatte, lange ein Erfolgsmodel war? Mein bisheriges Leben war anstrengend, aber in dem was ich tat, sah ich einen Sinn. Den wollte ich nicht in Frage stellen. Aber es war zwingend notwendig, innerlich aufzuräumen und einen neuen Blickwinkel zu gewinnen.

 Im Herbst 2009 erwirkte ich der ARGE gegenüber eine Freistellung, mich erstmals nicht um eine neue Stellung bemühen zu müssen. Das ging relativ einfach, da ich für meinen Sohn Pflegestufe III beziehe. In diesem Punkt konnte ich mir Luft verschaffen und dieses Problem auf eine Zeit verschieben, in der ich wieder mehr bei mir selbst sein würde. Sobald ich wieder zu Kräften gekommen sein würde. Das war die nächstliegende Aufgabe für mich. Diese tiefe Müdigkeit in mir musste doch irgendwann nachlassen, das konnte doch kein Dauerzustand sein? Nachts tat sich eine Ahnung in mir auf, die kaum in Worte zu fassen ist: Die Ahnung, dass mit mir, meinem Körper, grundsätzlich etwas nicht in Ordnung ist. Das Gefühl, dass mir meine Zeit knapp wird. Eine innere Stimme in mir, die des Nachts gehört werden wollte.


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Im Dezember 2009, gönnte ich mir zum ersten Mal in all den Jahren eine Woche Urlaub von meinem Sohn. Keine Termine, keine Verpflichtungen, kein Kümmern, kein nächtliches Aufstehen, keine Mama sein für sieben Tage. Welch ein Luxus...

 Für das zweite Advent-Wochenende im Rahmen dieses Urlaubs, lud mich Karlsson nach Rom ein. Welch ein aufregendes Wochenende. Zum ersten Mal seit vielen Jahren bestieg ich ein Flugzeug. Die Stadt Rom war ein Staunen ohne Gleichen. Es war ein wunderbares Gefühl, durch die Straßen zu schlendern und geschichtsträchtige Orte zu bewundern und in diese reiche Stadt einzutauchen. Ich fühlte mich lebendig und zufrieden wie schon lange nicht mehr.

 Im neuen Jahr begann ich mehrmals die Woche schwimmen zu gehen in Verbindung mit Saunagängen und erfüllte mir zu meinem 41. Geburtstag einen Kindheitstraum: Ich nahm an einem Schnupperkurs Reiten für Erwachsene teil und war sofort vom Reitfieber infiziert. Meine Mutter nahm ich zu dem Schnupperkurs mit, da sie mir bei einem Besuch von Appasionata im Februar gestanden hatte, dass das Reiten für sie ebenfalls ein Kindheitstraum gewesen sei. Meine Mutter ist ein Mensch, der sich wenig neues traut auszuprobieren. Meine so unendlich traurige Mama...

 

Kapitel 3

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