Angelika

 

Meine Neugierde und mein Wissensdurst bescherten mir ein sehr bewegtes Leben. Keine Karriere, keine langfristige Beziehung. Im Sommer 2004 glaubte ich endlich angekommen zu sein und wagte den Schritt in den Hafen der Ehe. Nur wenige Monate später wurde ich von einer heftigen Ehekrise fast erschlagen. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete ich in einem Reisebüro. Passend kam da die Einladung des australischen Fremdenverkehrsamtes zur Teilnahme an einer Reise nach Westaustralien. Endlich konnte ich mir einen Traum erfüllen: schwimmen mit den Walhaien! Völlig aufgewirbelt trat ich die Reise an. Nach der Ankunft in Exmouth erhielt die Gruppe genaue Instruktionen bezüglich des Umgangs mit den Walhaien. Die sind zwar Vegetarier, aber die stattliche Größe birgt auch Risiken. Das heißt im Klartext, 25 Meter Sicherheitsabstand zu den Tieren halten. Ich quetschte mich in den Neoprenanzug und ließ mich in das warme, mit Plankton getränkte Wasser gleiten. Absolute Stille umgab mich. Ungeduldig paddelte ich ziellos umher. Hier sollten doch die Tiere sein. Aber wo? Das Plankton schränkte meine Sicht erheblich ein. Ich bewegte mich im Blindflug. Wie aus dem Nichts schwebte plötzlich ein Walhai vor mir. Mir stockte der Atem, mein Herz schien stillzustehen. Für einen Moment sahen wir uns in die Augen, dann schwamm er weiter. Ich folgte ihm, bis er wieder im Nebel des Planktons verschwand. Auch meine Reise musste weitergehen. Als ich wieder ins Boot kletterte, tauchte mein Walhai direkt neben mir auf und verabschiedete sich mit einem Schlag seiner riesigen Schwanzflosse von mir. Dieses Erlebnis hat sich fest in meinem Herzen eingebrannt. Und wenn es mir mal nicht so gut geht, gleite ich wieder in Gedanken mit dem sanften Riesen durchs Wasser.

 

Nach meiner Rückkehr in Deutschland verlief alles sehr dramatisch. Zur Rettung der Ehe sollte ein Wohnungswechsel beitragen. Im Juni 2006 verkündigte ich das endgültige Aus unserer Beziehung. Im September erhielt ich die Kündigung der Wohnung wegen Eigenbedarfs. Nun war der Kämpfer in mir gefordert! Schnell fand ich eine neue kleine Mietwohnung mitten in den Weinbergen. Im November schien alles bereit für einen Neuanfang.

 

Nur hatte ich einige Signale übersehen bzw. ignoriert. Mein Gewicht purzelte ohne mein Dazutun in den Keller. Die Ärzte vermuteten, dies sei stressbedingt. Ab und an hatte ich es mit Schwindelattacken zu tun und die Erkältung schien nicht weichen zu wollen. Oft war ich erschöpft und völlig kraftlos.

 

Im Sommer 2007 besuchte ich mit meiner Nachbarin und deren Freundin ein Open-Air-Konzert. Eine Aussage, die ich eigentlich nicht hören sollte, irritierte mich: „Du, deine Nachbarin ist eine richtige Schlaftablette!“ Ich und Schlaftablette? Das passte nun wirklich nicht zu mir. Im November 2007 sagte ich zu einer Freundin: „Ich glaube, ich muss mal Heilfasten. Die Jahreszeit passt zwar nicht, aber ich habe das Gefühl, irgendetwas ist in meinem Körper, was nicht hineingehört.“ Im Nachhinein ergab das alles einen Sinn. Mittlerweile kenne ich die Signale des Krebses. Vielleicht hätte ich mir zu diesem Zeitpunkt auch ernsthaft Gedanken über meine Gesundheit gemacht, wenn da nicht ein weiterer Rückschlag gewesen wäre: ich erhielt die Kündigung meines Arbeitsplatzes. Als Einzelkämpfer musste ich mich nun zügig um die wirtschaftlichen Aspekte meines Daseins kümmern. Das hatte Priorität. Die Gesundheit musste hinten anstehen.

 

Im Januar 2008 trat ich meine neue Arbeitsstelle in einem Reisebüro an. Im Februar folgte der Scheidungstermin. Im Mai gönnte ich mir einen Kurztrip nach Ibiza. „Läuft doch alles perfekt – oder?“ Ich lag auf dem Bett in meinem Hotelzimmer. Wie von einem Magneten angezogen, wanderte meine Hand zielsicher zu dem Knoten in der rechten Brust. Zwar hatte ich eine zystische Mastopathie, aber dieser Knoten war eindeutig neu und anders. Die letzte Vorsorge lag knapp 3 Jahre zurück. „Will ich es wirklich wissen?“ Das musste ich erst für mich klären. Die Konsequenzen konnte ich nur schwach erahnen. Schließlich hatte ich mich bis zu diesem Zeitpunkt nie mit dem Thema Krebs befasst. Es war Ende Mai. Oft fuhr ich mit dem Fahrrad zur Arbeit. An diesem Tag zogen schwere Wolken auf. Sollte ich trotzdem die Heimfahrt auf dem Rad wagen? Ich ging eine Wette mit mir ein: „Wenn du das schaffst, schaffst du alles!“ Mutig radelte ich los. Der Sturm baute sich immer stärker auf. Der Wind stieß mich fast vom Fahrrad. Der wolkenbruchartige Regen behinderte meine Sicht. Die Autos auf der Straße fuhren zum Teil rechts ran. Blitz und Donner begleiteten mich die 10 km nach Hause, aber ich schaffte es. Später hörte ich in den Nachrichten, dass es einer der schlimmsten Stürme seit Jahrzehnten in dieser Region gewesen sei. Ich vereinbarte einen Termin bei meinem Gynäkologen.

 

Das Ergebnis: der Knoten rechts war lediglich ein Fibroadenom, ein gutartiger Knoten, aber links befanden sich 3 Krebsherde. Diese waren weder tastbar noch auf dem Ultraschall sichtbar. Auf der Mammographie sah es aus, als hätte jemand einen Salzstreuer ausgeleert. Offizieller Titel meines Mitbewohners war DCIS highgrade invasive. Eine Tumorart, die angeblich erst nach ca. 15 Jahren invasiv werden soll. Ein Indiz dafür, dass es bei Krebs nichts gibt, was es nicht gibt. Krebs unterwirft sich keinen einheitlichen Spielregeln oder geordneten Strukturen. Je nach Tumortyp macht er sich sichtbar oder bleibt unsichtbar, ganz wie es ihm beliebt.

 

Einige Auslöser bzw. Begünstiger dieser Krankheit sind bekannt. Umstritten sind psychische Faktoren. Tatsächlich schwirren Krebszellen ständig in unserem Körper herum, die von Abwehrzellen, sogenannten T-Zellen, bekämpft werden. In Studien hat man festgestellt, dass bei hoher psychischer Belastung die Anzahl der T-Zellen drastisch sinkt. Somit wird die natürliche Abwehr heruntergesetzt. Stimmt diese Theorie, sollten bei Krisen sofortige Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass Psyche und Körper ineinander greifen.

 

Erstaunlicherweise war die Konfrontation mit der Diagnose kein Schock für mich. Der Krebs hatte, ohne vorher zu fragen, mich als sein Refugium ausgewählt. Eine bösartige und mutierende, aber auch lebende Zelle möchte sich in meinem Körper breitmachen. Östrogenrezeptor positiv. Das heißt, jede Östrogenzelle bietet meinem Krebs eine Kuschelecke an. Er wird doch nicht das Haus, in dem er wohnen möchte, zerstören? Ich wusste von seiner Existenz schon seit einiger Zeit, konnte es lediglich nicht benennen. Jetzt kam mir meine frühere Tätigkeit als Sanitäterin zugute: in Notsituationen einen kühlen Kopf bewahren, Fakten sammeln, strategisch klug vorgehen und nach einer Lösung suchen.

 

Der König aller Krankheiten: Krebs – eine Biographie. Sidharta Mukherjee schrieb dieses Buch. Mein medizinisches Fachwissen schätze ich selbst als sehr minimal ein, deshalb erforderte das Lesen dieses Buches sehr viel „Google“. Die Biographie meines Krebses wird nicht soviel Stoff hergeben, aber die Geschichte umfasst auch nur einen kurzen Zeitraum.

Am 04.07.2008 unterzog ich mich der ersten OP. Independence day? Das Resultat forderte eine weitere Entscheidung. Die Aussage der Chirurgen, „Wir müssen im Gesunden operieren“, bedeutet, dass ein Mindestabstand zwischen Gesundem und Tumorgewebe eingehalten werden muss. Als Gerüst für die Vorgehensweise dienen offizielle Leitlinien (S1, S2 und S3). Aus diesen wird auch die weitere Strategie zur Bekämpfung der Krankheit ermittelt. In meinem Fall wurde der Mindestabstand nicht eingehalten. Was nun? Nachoperieren? Oder gleich ein „clean sweep“? Ich entschied mich für eine subkutane Mastektomie mit gleichzeitigem Wiederaufbau mit Implantat und Latissiumus Dorsi (Rückenmuskel). Diese Art von Operation gehört heute quasi zu den Dinosauriern unter den OPs. Außerdem würde gemäß den heutigen S3-Leitlinien der Abstand zwischen Tumor und gesundem Gewebe von 2007 genügen.

 

Das führt mich direkt zu einem sehr wichtigen Punkt. Die Forschung entwickelt sich ständig weiter. Entsprechend werden die S1-, S2- und S3-Leitlinien angepasst. So ist es nicht verwunderlich, dass 80% der Brustkrebspatientinnen im Nachhinein eine andere Strategie zur Tumorbekämpfung wählen würden. Ein weiterer Faktor für diese enorm hohe Zahl ist bestimmt auch, dass sich das Wissen um die Krankheit im Laufe der Therapiephase bei vielen Patientinnen erhöht. Nur, wer nimmt sich schon im Angesicht einer solchen Diagnose die Zeit, sich im Vorfeld handlungssicher zu machen? Das Kaleidoskop des Krebses. So vielschichtig wie der Tumor selbst sind die Möglichkeiten und Ansätze zur Bekämpfung. Gerne gibt sich der Patient vertrauensvoll in die hoffentlich kompetenten Hände der Ärzte. Auch dies ist eine Art von Selbstbestimmung. Ich selbst gehöre zu jenen renitenten Patienten, die den Ärzten das Leben schwermachen. Ich sehe den Beschluss einer Tumorkonferenz nicht als endgültiges Urteil, sondern als einen Vorschlag. Die Entscheidung treffe ich und muss bereit sein, die Konsequenzen meiner Entscheidung zu tragen.

 

21.07.2008, der 2. OP-Termin. In der Nacht zuvor wanderte ich ruhelos umher. Die Nachtschwester fragte mich, ob sie mir ein Beruhigungsmittel geben sollte. „Nein! Ich weiß zu wenig, das treibt mich in den Wahnsinn!“ Daraufhin reichte sie mir ein Buch: Überlebensbuch Brustkrebs von Goldmann-Posch. Die Nacht war gerettet!

 

Schmunzelnd nahm ich den Termin meiner ersten Chemotherapie entgegen. Theoretisch hätte es mein 4. Hochzeitstag sein sollen. Seidenhochzeit. Den Augenblick, in dem die erste Chemo über den Port in den Körper fließt, wird wohl kein Krebspatient vergessen. Ein Sammelsurium von Emotionen macht sich breit: Angst, Hoffnung, Argwohn, Skepsis und Spannung. Jeder Patient reagiert anders auf die Chemo. Ich wurde extrem gefräßig. Nach jedem Chemo-Zyklus bewegte sich mein Kopf Richtung Kühlschrank und saugte den Inhalt leer. Das zeigte mir deutlich, dass ich den Bedarf an Nährstoffen mit der üblichen ausgewogenen Nahrungsaufnahme nicht decken konnte. Mit Hilfe der Internetseite des Heidelberger Klinikums stellte ich mir eine Liste von Nahrungsergänzungsmitteln zusammen: Vitamin D, Folsäure, Zink und Selen. Letzteres nahm ich vor und nach dem Chemo-Zyklus in einer hohen, für gesunde Menschen fast toxischen Dosis ein. Enzyme mussten aus dem Plan gestrichen werden. Die waren in meinem Budget nicht mehr drin. Gesund werden kann sich zu einem echten Luxusartikel entpuppen! Gleichzeitig begann ich, obwohl dies mein Onkologe belächelte, mit einer Misteltherapie. Nach Beendigung der Chemo reagierte mein Körper auf die Mistel allergisch. Mein Körper signalisierte mir: „Ich brauche das nicht mehr!“. Mit Übelkeit hatte ich noch nie was am Hut. Also warum während der Chemo damit anfangen? Tatsächlich musste ich mich während der gesamten Therapie nur zweimal reflexartig übergeben, ohne dabei Übelkeit zu verspüren. Immer am Tag nach der Chemo bekam ich eine Spritze im Wert von ca. 1200.- Euro. Die sollte die Anzahl meiner Leukozyten in die Höhe katapultieren bzw. vor dem Einstürzen bewahren. Das machte mich nun, zumindest im Sinne der Pharmaindustrie, zu einem wertvollen Menschen. Die Nebenwirkung sollte lediglich grippeähnliche Gliederschmerzen hervorrufen. Tatsächlich erlebte ich dies dramatischer. Ich fühlte mich abgeschlagen. Was hilft, ist Bewegung. Also schlenderte ich mit einem Bekannten durch die Weinberge. Nach ca. 1 km setzte ein seltsamer Schmerz im Bereich der Lendenwirbel ein, dieser strahlte weiter in Richtung Becken, und schließlich schien die Kommunikation zwischen meinem Gehirn und meinen Füßen nicht mehr zu funktionieren. Ich schleppte mich zurück zur Wohnung. Es war ein schöner, heißer Sommertag. Aber selbst das leichte Leintuch auf meinem Körper bereitete mir fast unerträgliche Schmerzen. Zwei Tage später war der Spuk vorbei. Ich beschrieb dieses Phänomen mehreren Ärzten. Bis heute habe ich darauf keine Antwort erhalten.

 

Im November war mein letzter Chemozyklus. Wenige Tage danach ließ ich mir den Port entfernen. Im Dezember trat ich meine Reha-Maßnahme in Freiburg an, sozusagen ein Epizentrum des Krebses. Gierig stillte ich hier meinen Wissensdurst. Fast lächerlich klein kam mir meine eigene Erkrankung im Angesicht der Schicksale manch anderer Patienten vor. Gestärkt und inspiriert verließ ich Freiburg im Januar.

 

Auf meinen Wunsch hin war mein Entlassungsstatus gesund und arbeitsfähig. Wieder bewegten mich wirtschaftliche Gründe zu dieser Entscheidung. Einen längeren Verdienstausfall konnte ich mir nicht leisten, also keine Teilzeitwiedereingliederung. 6 Wochen nach Arbeitsantritt fand ich die Kündigung aus wirtschaftlichen Gründen in meinem Briefkasten. Stichtag 01. April 2009. Das bedeutete für mich ein Leben unter dem Existenzminimum. Wie lange konnte ich das durchhalten? Die Krankheit hatte mich schon viel gekostet. Aufstehen, Krönchen richten und weitergehen. Im Oktober 2009 machte ich meine Diagnose zum Beruf: Sachbearbeiter für das Mammographie - Screening Programm.

 

2010 beginnt ein wichtiger Teil der Aufarbeitungsphase. Partnerschaft und Krebs. Da treffen zwei schwierige Komponenten aufeinander. Inwieweit die Erkrankung direkt am Scheitern meiner Beziehungen (vor, während und nach Krebs!) beteiligt war, lässt sich schwer abschätzen. Auch an diesem Punkt ein Buchtipp: Trotzdem: Leben! von Dr. Hans Jellouschek.

 

Es bedurfte einiger Zeit, den „neuen“ Körper zu akzeptieren. Nicht die Gott sei Dank wieder vorhandenen, wenn auch grauen Haare oder Falten sind das Thema, sondern die vielen Narben, der durch Lymphstau geschwollene Arm, die plötzliche Asymmetrie meines Busens.

 

Meine Ärzte konnten leider den Wächterlymphknoten nicht bestimmen. Folglich wurden mir 19 Lymphknoten entfernt. Das bescherte mir Taubheit im linken Arm und auch eingeschränkte Feinmotorik. Nicht messbar, aber für mich als Linkshänder deutlich spürbar. Fast 3 Jahre pilgerte ich zweimal wöchentlich zur Lymphdrainage. Eine andere Lösung musste her. Schwimmen! Das war nicht ganz so einfach. An das Tragen eines schnittigen Swimsuites war nicht zu denken. Die Asymmetrie meines Busens war zu gravierend. Ich entschied mich für einen Bikini mit Bügeltop. Das verdeckte zwar nicht die Narbe entlang meines Rückens, aber das optische Ergebnis war für mich erträglich. Obwohl ich ein ausgeprägter Morgenmuffel bin, bevorzugte ich das Frühschwimmen um 06:00 Uhr. Ich wollte keine Blicke auf mich lenken. Mittlerweile liege ich, ganz unbekümmert, an einem überfüllten Baggersee.

 

Narben – eine ärgerte mich ganz besonders. Bei der Entfernung des Ports wurden selbstauflösende Fäden benutzt. Nur lösten die sich bei mir nicht alle auf. Sie vergruben sich im Gewebe. Die Narbe blickte mir jeden Morgen mit einem hässlichen Grinsen im Spiegel entgegen. Da kam mir eine Idee. Eine meiner vielen Reisen hatte mich nach Jamaika geführt. Mir gefiel der Staatsvogel: der Doctorbird, eine Art Kolibri. Eine meiner Freundinnen mit einem ausgeprägten künstlerischen Talent zeichnete diesen Vogel für mich. Nun thront er als Tätowierung auf der Narbe. Jetzt sehe ich jeden Morgen einen Paradiesvogel im Spiegel.

 

Ich hungerte nach mehr fundiertem Wissen. Das Internet bietet zwar eine Flut von Informationen. Wirklich gute, verwertbare Informationen sind aber für einen Laien nur schwer herauszufiltern. Da stolperte ich über eine Lösung. 2011 Teilnahme am Kompetenztraining für Brustkrebs-Aktivistinnen kombra. Pathologie und Epidemiologie bekamen ein Gesicht, wurden verständlich und wichtig für mich. Komplementäre Therapien nutzen. Zu diesem Punkt kann ich Bücher von Frau Dr. med. Jutta Hübner empfehlen. Entwirrung stiftete bei mir ein Buch von Prof. Dr. med. Josef Beuth:„ Gesund bleiben nach Krebs“. Grundsätzlich gibt es keine Musterlösungen für den Umgang mit Krebs. Keine mathematischen Formeln, die einem den Weg weisen.

 

Warum Krisen selten Chancen sind (Rolf Dobelli, Die Kunst des klugen Handelns). In diesem Punkt gebe ich dem Autor recht. Jederzeit besteht die Möglichkeit, sein Leben umzustrukturieren. Leider bedarf es oft einer Krise, um den Schritt zu wagen. Ich bin auch nicht gestärkt aus meiner Krebserkrankung emporgetaucht. Die diversen OPs und Chemos haben ihre Spuren hinterlassen und bescheren mir auch heute noch Beeinträchtigungen. Die Klassiker: Rückenbeschwerden, eingeschränkte Mobilität, Fatigue-Syndrom und erhebliche psychische Belastungen. Die Studien bezüglich Langzeitschäden der Chemotherapie befinden sich bestenfalls in den Babyschuhen. Die ersten Forschungsergebnisse an dem Zytostaktikum Fluoroucil (FU-5) wirken auf mich wie das Drehbuch zu einem Horrorfilm. FU-5 ist ein Standardbestandteil im Chemo-Cocktail für Brustkrebspatientinnen. Mir klingen noch heute die Worte des behandelnden Arztes im Ohr: „Sie sind jung und gesund (?). Wir werden mit der Dosis bis an den Anschlag gehen.“ Bloß nicht verrückt machen lassen! Noch ist nichts bewiesen. Vielleicht nur ein „Irrläufer“. Immerhin hat man mittlerweile im „Tumorbiologischen Zentrum Freiburg“ eine Langzeit-Nachsorge über 10 Jahre für Krebspatienten eingerichtet. Ein Lichtblick.

 

Wie schon erwähnt, gehöre ich zu den renitenten Patienten. Trotz heftigster Widersprüche meiner Ärzte lehnte ich die Strahlentherapie ab. Auch die Anti-Hormon-Therapie brach ich nach zweieinhalb Jahren ab. Zu sehr litt meine Lebensqualität. Ich wurde immer depressiver.

 

Ich war bereit, die Konsequenzen für meine Entscheidungen zu tragen. „War ich das wirklich?“ Mai 2013 ein erneuter Tastbefund wieder auf der rechten Seite. Es wurden 128 Gramm Gewebe entfernt. Der pathologische Befund liest sich zwar ganz spannend, aber keine Tumorzelle! Eigentlich ein Grund zur Freude, aber leider redet man oft aneinander vorbei, wenn man nicht über die gleichen Sachverhalte spricht. So erging es auch meinem Operateur und mir. Die OP wurde nicht gemäß meinen Vorstellungen durchgeführt. Die sah eine großflächigere Entfernung des Drüsengewebes vor und sollte durch ein Implantat ersetzt werden. Für mich eine Minimierung des Restrisikos. Im Oktober 2014 bewegte mich wieder ein Tastbefund auf der linken Seite dazu, die Situation erneut zu analysieren. Der Knoten war genau an der gleichen Stelle, an der 2008 der Krebs festgestellt wurde. Das zeigte mir ganz deutlich, dass immer ein Restrisiko besteht. Punkt 2: auch ein Implantat birgt Komplikationen. Ein Tumor könnte sich dahinter verstecken. Bei mir ist es eine beginnende Kapselfibrose. Die kann schmerzhaft sein. Optisch sieht es aus, als ob man einen Tennisball in einem Socken verschwinden lässt. Und Punkt 3 ist die Eigenverantwortung. Ich kann meinen Lifestyle anpassen, um das Restrisiko zu minimieren. Wichtig dabei ist, das Leben nicht zu vergessen! Leider lebe ich nicht so diszipliniert, wie es meine Diagnose fordert. Mein innerer Schweinehund ist sehr lebenshungrig. Ständig zanken wir herum und versuchen einen erträglichen Kompromiss zwischen Kessel-Chips und Brokkoli auszuhandeln.

 

Vor einigen Wochen schlich sich eine Veränderung ein. Ich traf auf Hans aus Bayern. Der schaute mich an und sagte: „Du bist a Wuilde!“ Ein anderer Bekannter bezeichnete mich als quirlig. Das widersprach meiner derzeitigen Selbsteinschätzung. Ich wurde stutzig. Wo war die Schlaftablette geblieben? In den letzten Wochen hatte sich wieder ein beachtlicher Berg Müll angesammelt. Meine Freundin beschloss, mich da herauszuzerren. Ausgerechnet ich und Altweiber-Fasching! Egal, Tapetenwechsel war dringend angesagt. An diesem amüsanten Abend begegnete mir jemand. Und mit seiner Hilfe begegnete ich wieder der „Alten“. Danke, dass du mir den Spiegel vor die Nase gehalten hast!

 

Wie geht es nun weiter? Ein Zitat aus „The Living Gita“: Wenn ein Mensch nicht weiß, dass er nichts weiß, ignoriere ihn. Wenn er weiß, dass er nichts weiß, lehre ihn. Wenn er weiß, dass er wissend ist, lerne von ihm. Ich zähle mich zu den Menschen, die wissen, dass sie nichts - oder zumindest nicht viel - wissen. So führt mich mein Wissensdurst zu immer neuen Zielen. Die Inspiration für mein neues Ziel bekam ich vor vielen Jahren von einer Anruferin im Servicecenter des Mammographie - Screening - Programms. Ich habe mich für ein Hospiz-Seminar angemeldet. Ob ich das schaffe? Ich muss lernen, mit meinen Kräften hauszuhalten. Immer wieder bremst ein Schub des Fatigue-Syndroms meinen Tatendrang. Ich leide nicht an Todesängsten. Für mich ist Tod ein wichtiges und unausweichliches Thema (Selbst bestimmt sterben; Gian Domenico Borasio)

 

Rolf Dobelli schwört auf Zufälle, eine meiner besten Freundinnen auf schicksalhafte Vorbestimmung. Ganz gleich, wer von den beiden Recht hat, ich bin zufrieden da gelandet zu sein, wo ich jetzt bin, und blicke gespannt auf den Weg, der vor mir liegt. Da war doch noch mein Reisetraum Chile……..

 

Mai 2015

Angelika Kustermann

 


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Kommentare: 3
  • #1

    Frollein Wunderfein (Sonntag, 31 Mai 2015)

    Liebe Angelika - vielen Dank für dein Vertrauen und deine Offenheit!!!
    Ich wünsche dir von ganzem Herzen alles Liebe und Gute...

  • #2

    Wolfgang (Sonntag, 07 Juni 2015 11:37)

    Hallo Angelika,
    Dein Beitrag ist offen, mutig und ermutigend. Das fordert mir sehr großen Respekt ab!!
    Liebe Grüße
    Wolfgang

  • #3

    Richard (Samstag, 11 Juli 2015 22:44)

    Alles alles Gute Wünsch ich dir ...... Und das dein Traum ( Chile ) Wirklichkeit wird. Rr

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