Buchbesprechung Siddharta Mukherjee: Der König aller Krankheiten. Krebs – eine Biografie. Von Ulla Ohlms

© Deborah Feingold
© Deborah Feingold

Wer Bücher über Krebs sucht, findet sie regalmeterweise. Die meisten sollte man besser stehen lassen. Viele Meter füllen Werke, die ich persönlich als „Erweckungsliteratur“ bezeichne. Sie arbeiten nach dem Schema: „Wie ich Krebs bekam und mein Leben schöner wurde.“ Dann gibt es die seriöse Fachliteratur für den Laien - wirklich prima, aber nach zwanzig Seiten senkt sich lähmende Müdigkeit über die Leserin. Was hat das mit mir, was hat das meiner Erkrankung zu tun?

 

Bei Siddharta Mukherjee ist es anders. Mit seinem Buch „Der König aller Krankheiten. Krebs – eine Biografie“ hat er ein Stück Weltliteratur zum Krebs geschrieben – für mich jedenfalls und für viele andere Rezensenten. Schon der Buchtitel – König! Biografie! - verrät den exzellenten Schreiber. Hier ist ein Sachbuch vorgelegt worden, das spannend wie ein guter Krimi ist und höchsten literarischen Ansprüchen genügt. Und noch etwas: das Buch ist getragen von einer Warmherzigkeit und Empathie gegenüber allen Krebspatienten. „Der König aller Krankheiten“ hat hymnische Kritiken und den Pulitzer-Preis für das beste Sachbuch 2011 bekommen. Mit Recht!

 

Siddharta Mukherjee ist ein amerikanischer Arzt und Onkologe. In seinen Gesprächen mit Krebskranken sah er sich immer wieder mit Fragen nach dem Wesen des Krebses und nach den Erfolgen im Kampf gegen diese Krankheit konfrontiert. Neben seiner Arbeit in der Klinik ist er diesen Fragen nachgegangen, hat gelesen, recherchiert, hat die Antworten und Ungewissheiten in ein Buch gefasst. Treffer!

 

Krebs kommt unerwartet

 

Es beginnt mit Carla Reed, eine 30-jährigen Vorschullehrerin mit drei kleinen Kindern. Im Mai 2004 hat sie akute Symptome, wird untersucht. Dr. Mukherjee muss ihr die Diagnose und Therapie mitteilen. “Ich erklärte ihr die Situation, so gut ich konnte. Vor ihr liege ein Tag voller Untersuchungen… Aber die vorläufigen Untersuchungsergebnisse ließen vermuten, dass Carla an einer akuten lymphatischen Leukämie erkrankt sei….Und sie sei – und hier machte ich eine kleine Pause – häufig heilbar. Heilbar. Carla nickte, als dieses Wort fiel. Unausweichliche Fragen standen im Raum. Wie heilbar? Wie hoch waren die Überlebenschancen? Wie lange würde die Behandlung dauern?. Die Therapie würde mehr als ein Jahr dauern. Die Heilungschancen lägen bei dreißig Prozent. Wir sprachen eine Stunde miteinander, vielleicht länger…. Die Tür fiel hinter mir zu, als ich ging. Ein Luftstoß fegte mich hinaus und schloss Carla in ihrem Krankenzimmer ein. „(S. 30)

Gerade solche Erlebnisse im Arzt-Patient-Kontakt waren der Motor für dieses Buch. Entstanden ist eine umfassende Kultur- und Sozialgeschichte des Krebses, 5.000 Jahre Krebs und Krebsbekämpfung. Das Buch ist angereichert mit spannenden Geschichten über Krebsforscher, ihre Familien, ihre Suche, ihre Entdeckungen, ihre Fehlschläge und ihre Erfolge. Krebs – so erfährt man – ist erst dann wirklich im Bewusstsein der Menschheit aufgetaucht, als die großen tödlichen Seuchen wie Pest, Cholera, Tuberkulose erfolgreich bekämpft waren. Erst als die Menschen durch Fortschritte in der Hygiene (Abwässer, Sauberkeit im Krankenhaus, Entdeckung von Ansteckung usw.) und durch medizinische Erfolge älter wurden, rückte Krebs ins Licht. Krebs ist vor allem eine Alterserkrankung.

 

Erste Krebsforscher, erste Vermutungen

 

Mukherjee beginnt den Bogen der Krebsgeschichte beim griechischen Arzt Claudius Galen 160 n. Chr., für den Krebs die körperliche Folge von zu viel schwarzer Galle war. Dem folgten Jahrhunderte dunkler Medizingeschichte ohne nennenswerte Weiterentwicklung. Aber um 1550 brachten die heimlichen Anatomie-Studien des belgischen Studenten Vesalius erste wichtige Erfolge auf dem Weg, den menschlichen Körper zu entdecken, Krankheiten zu verstehen und irgendwann zu heilen. Wir lernen die wegweisenden Forscher und ihre bahnbrechenden Erkenntnisse kennen: Marie Curie, Rudolf Virchow, Paul Ehrlich, Robert Koch. Zu allen gibt es anschauliche Geschichten.

 

Die Ursachen von Krebs blieben lange unentdeckt – sie sind es bei vielen Krebsarten bis heute. Spielten Viren und Bakterien eine Rolle? Ging es um Ansteckung? Dann fiel dem Londoner Chirurgen Pott 1775 plötzlich auf, dass junge englische Kaminkehrer (es waren meist Kinder) häufig an Hodenkrebs erkrankten. Hatte der Kaminruß damit zu tun? Eine wichtige Spur. Sehr viel später übrigens wurden erste Hinweise auf Nikotin als Ursache für Lungenkrebs als lächerlich abgewehrt und vertuscht. Mächtige Interessen waren im Spiel.

 

Die Suche nach dem Wesen der Krebserkrankungen und die Erprobung wirksamer Therapien verliefen keineswegs gradlinig. Zickzack war die Gangart. Und so mussten Frauen mit Brustkrebs brutale Operationen aushalten, an deren körperliche Folgen sie lebenslang litten. Und oft kam der Krebs wieder. Halstead, ein amerikanischer Chirurg, operierte deshalb immer radikaler, „räumte“ den Brustkrebs mit Stumpf und Stiel aus dem Brustraum. Sehr grausam, kein Mitleid mit den Frauen. Dass Krebs eine systemische Erkrankung ist, die sich trotz Entfernung der Geschwulst weiter im Körper ausbreiten kann, war noch nicht bekannt.

 

Öffentlichkeit und Lobby gegen Krebs

 

Siddharta Mukherjee schildert neben dem medizinischen Kampf gegen Krebs auch den in der US-Öffentlichkeit geführten Feldzug. Die durchsetzungsstarke Lobbyistin Mary Lasker schaffte es mit Kampagnen und eindrucksvoller Werbung, dass der amerikanische Präsident Nixon 1971 zu einem „Krieg gegen den Krebs“ aufrief. In 25 Jahren sollte die Krankheit heilbar sein. Davon sind wir heute weit entfernt. Öffentliche Aufmerksamkeit hilft aber sehr und nutzt der Prävention, wie man am wirksamen Kampf gegen das Rauchen sieht.

 

Der Autor zeigt uns die bahnbrechenden Erkenntnisse der Zellbiologie, die Wege der molekularen Forschung und die mitunter schwer erträgliche experimentelle Suche nach Therapien. Vor allem an kindlicher Leukämie wurden die neu entdeckten Substanzen der Chemotherapie erprobt – ein harter Weg, der allerdings im Ergebnis zu hohen Heilungschancen bei Kindern geführt hat. Sidney Farber war Forscher und Kämpfer für das Überleben von Kindern. Er gilt als Vater der Chemotherapie, er ist der zentrale Erzählfaden in diesem Buch...

 

Wann ist Krebs endlich heilbar? Dieser Traum – so Mukherjee – wird sich nicht erfüllen. Zu vielschichtig, zu komplex ist Krebs. Dahinter verbergen sich Hunderte unterschiedlicher Krankheiten. „Die Antwort auf diese Frage liegt in der Biologie dieser unglaublichen Krankheit. Krebs, wissen wir heute, ist unserem Genom eingewoben. Onkogene entstehen durch Mutationen von Genen, die das Zellwachstum regulieren. Mutationen häufen sich, wenn die DNA durch Karzinogene geschädigt ist, aber auch aufgrund anscheinend zufälliger Kopierfehler bei der Zellteilung.“ (S. 568) Für Mukherjee kann es keine endgültige und schnelle Heilung geben, „ da unsere Zellen sich teilen und unsere Körper altern, und da Mutationen sich unerbittlich übereinander häufen. „ (S. 568).

 

Carla Reed begegnet uns mehrfach im Buch. Wir sehen sie durch eine lange, sehr harte Chemotherapie gehen, isoliert in einen kühlen sterilen Raum eingesperrt. „Wenn Carlas Kinder mit Masken und Handschuhen kamen, weinte sie still und drehte das Gesicht zum Fenster. Für Carla wurde die körperliche Isolation dieser Tage zum Sinnbild einer tieferen, bedrückenderen Einsamkeit, einer psychologischen Quarantäne..“ (S. 179)

 

Carla hat ihren Krebs besiegt – das kann ihr der Arzt Dr. Mukherjee im August 2005 mitteilen.

 

Ich habe aus diesem großartigen Buch gelernt: Wir werden manchen Krebs dauerhaft heilen können, aber wir werden mit Krebs leben müssen. Es gilt, ihn einzudämmen und ihn zu einer chronischen Krankheit mit langer Lebensdauer zu machen.


Gastautorin Ulla Ohlms, eine eloquente und sehr geschätzte Patientenvertreterin, die sich unermüdlich für Brustkrebspatientinnen einsetzt und zudem Vorstandsmitglied der PATH Stiftung.


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