Evelyn

„Legt das Leben dir Steine in den Weg, bau was Schönes draus“ oder „In jeder Krise steckt auch eine Chance“.

 

Jeder von uns kennt diese Sprüche, die einem immer dann präsentiert werden, wenn man sie so gar nicht gebrauchen kann. Aber ist es wirklich so, kann es sein, dass in jedem Tief, in jeder schweren Krankheit die Chance auf einen Neuanfang steckt?

 

Kurz nachdem ich die Diagnose Brustkrebs erhielt, sagte ein Arzt zu mir: „Vielleicht sind sie eines Tages dankbar dafür, Krebs bekommen zu haben. Vielleicht bringt diese Erkrankung sie zu vollkommen neuen Ufern.“ Ich muss gestehen, ich hielt den Arzt damals für übergeschnappt. Denn für mich ging es jetzt um ganz andere Dinge. Ich musste die Chemo, diverse Operationen und die Bestrahlung hinter mich bringen. Ich musste erstmal gesund werden und das würde ich, daran bestand für mich kein Zweifel. Der Weg war hart, ich bewältigte ihn zusammen mit meinem Mann und wir gingen ihn mit viel positiver Lebenseinstellung.

 

Doch eines Tages, kam mir der Satz wieder in den Sinn. Er fiel mir eines Abends ein, als ich wieder einmal nicht schlafen konnte. Vor einigen Tagen hatte ich die Diagnose Fatigue erhalten. Nun wusste ich endlich, was ich hatte und doch erschütterte mich die Endgültigkeit. Diese schlimme Erschöpfung würde mich ein Leben lang begleiten, es würde nie mehr wie früher werden.

 

Aber wann hatte eigentlich alles seinen Anfang genommen?

 

Nach der Krebsbehandlung war es mir wieder gut gegangen. Sicher, manche Dinge fielen einem schwer, die Kondition z.B. war nicht die Beste. Aber das würde vergehen, da war ich ganz sicher. Ich fand eine neue Arbeit und war fortan als Verkäuferin tätig. Ich liebte diesen Job, er machte mir Freude. Und doch war da eine Erschöpfung, die mir Sorgen bereitete. Die Schwäche kam schleichend und ich versuchte sie am Anfang krampfhaft zu ignorieren. Ich war erschöpft, ständig müde, konnte mich nur schwer konzentrieren, kleinste simple Dinge strengten mich an. Ein Buch lesen – unmöglich, Kunden bedienen – sehr schwierig. Ich räumte den Geschirrspüler aus und war danach reif für die Couch. Ab einem gewissen Punkt zählte ich nur noch die Tage. Im Januar würden wir einen Kurzurlaub machen. Wir wollten heiraten und ein paar Tage auf dem Darß verbringen. Und ausgerechnet dort, an meiner geliebten Ostsee, holte mich die Erschöpfung richtig ein. So schlimm, dass ich am Strand auf einer Düne hockte, nicht mehr weiterkam und heulte. Wir beide waren geschockt, diese Schwäche machte uns Angst. Ich bekam am nächsten Tag eine Erkältung, darauf schob ich alles. Und doch war diese Erkältung nicht die Ursache, sie legte mich nur endgültig flach und brachte mich zum Nachdenken. So konnte es nicht weitergehen.

 

Ich war am Ende, physisch und psychisch. Meine Arbeit musste ich aufgeben, es ging einfach nicht mehr. Das Schlimmste aber war, dass niemand mir helfen konnte. Ich rannte von Arzt zu Arzt, erntete Schulterzucken, die Diagnose Depressionen (samt eines flugs ausgestellten Rezeptes für Antidepressiva) oder gar die Ansage, ich wäre einfach nur faul und eine Simulantin.

 

Also begann ich selbst zu recherchieren - mühevoll, jeden Tag ein paar Minuten. Und da stieß ich zu ersten Mal auf die Krankheit Fatigue. Doch die Krankheitsverläufe der anderen Betroffenen, stimmten mit meinem nicht überein. Es sollte noch eine ganze Weile dauern, ehe ich die endgültige Bestätigung bekam. Fatigue - die bereits chronisch geworden war.

 

Nach kurzem Kampf bekam ich eine Rente und war auf der einen Seite erleichtert, auf der anderen Seite betroffen. Ich, die ich immer gearbeitet hatte, sollte einfach so zu Hause sitzen. Das konnte ich nicht, ich brauchte eine Aufgabe. Also suchte ich nach etwas und landete in so mancher Sackgasse. Bis eines Tages, mich meine Psychoonkologin auf eine Idee brachte. Sie schlug mir vor, die Geschichte meiner Krankheit aufzuschreiben. Erstmal nur so für mich, um mir vor Augen zu halten, was ich alles geschafft hatte. Der Gedanke gefiel mir. Und der Satz, den dieser Arzt vor so vielen Monaten zu mir gesagt hatte, fiel mir wieder ein. Konnte das ein neuer Weg sein? Der Text war schnell verfasst, er sprudelte geradezu aus mir heraus. Es war sehr heilsam und ich heulte unendlich viel. Aber ich war auch stolz auf mich. Was hatte ich alles schon geschafft? Dann war ich fertig und hatte soviel Freude daran gefunden, dass ich einfach weiterschrieb. Das war der Beginn meines ersten Romans.

 

Aber da war ja noch die Geschichte meiner Krankheit, sie lag in der Schublade. „Die musst du veröffentlichen“, meinte mein Mann. Ich war unsicher, würde es jemand lesen wollen? Einen Verlag zu suchen sparte ich mir und gab am Ende das Buch „Viertel Kraft voraus“, selbst heraus. Nie im Leben hatte ich mit solchen Reaktionen gerechnet. Fast jede Woche erreichte mich eine Zuschrift. Menschen schrieben mir, ich hätte sie gerettet, ihnen wieder neuen Mut geschenkt. Darum war es mir vor allem gegangen. Mein Buch sollte nicht deprimieren, es sollte eine Perspektive aufzeigen, dem Leben wieder einen Sinn geben. Ich wollte der Erkrankung Fatigue eine Bühne geben, anderen Betroffenen zeigen, ihr seid nicht allein, ihr bildet euch das nicht ein, seid keine Simulanten.

 

Doch da war noch etwas, was mir auf der Seele lag. Während meiner Strahlentherapie hatte ich die Bekanntschaft eines kleinen Mädchens gemacht. Sie litt unter einem Hirntumor und beeindruckte mich mit ihrem Lebensmut und ihrer kindlichen Freude. Damals schwor ich mir, diesen krebskranken Kindern helfen zu wollen. Nur wie? Eines Tages kam mir die Idee. Was konnte ich gut – schreiben. Also sollte ein Kinderbuch entstehen, mit vielen bunten Bildern.


Es spielt im Tierreich und erzählt die Geschichte des kleinen mutigen Marienkäfers Marie, dessen bester Freund der Hirschkäfer Karl eines Tages nicht mehr in die Schule kommt, weil er an Krebs erkrankt ist. Das Buch handelt von Freundschaft und Miteinander, aber auch den schwierigen Themen Krebs und Sterben. Doch die weiteren Schritte waren schwer. Die schiere Höhe der Summe, die für die Produktion eines Kinderbuches benötigt wurde, erschlug mich. Zum Glück hatte ich Mitstreiter und Freunde an meiner Seite. Sie machten mein Herzensprojekt, zu ihrem Herzensprojekt. Und so erschien im Dezember vergangenen Jahres das Buch „Die kühne Marie“. Ich begriff, alles im Leben ist möglich, wenn man nur fest daran glaubt. Mit einem Teil der Einnahmen unterstütze ich Vereine, die sich um am Krebs erkrankte Kinder und deren Angehörige kümmern. Viele Bücher wurden verschenkt, an Kinderstationen und Hospize. Wir haben Lesungen abgehalten in Kindergärten und Schulen und viele Fragen beantwortet.

 

Und dann stellte ich mir die Frage: Sollte ich wirklich eine Autorin sein? War dies mein Weg? Heute kann ich sagen: Ja, ich habe meine Berufung gefunden. Bisher sind von mir fünf Bücher erschienen, die alle erfolgreich sind. Ich schreibe, wenn es mir gutgeht und manchmal bleibt der Laptop einfach zu. Am meisten Freude macht es mir jedoch, wenn ich vor Betroffenen über mein Leben berichten und Lesungen aus meinem ersten Buch halten darf. Wenn Menschen dann hinterher zu mir kommen und mich als Mutmacherin bezeichnen, bin ich überglücklich.

 

Ich habe meinen Frieden mit der Fatigue gemacht. Sie behindert mich, mein Leben wird nie mehr so sein wie früher – doch ich lebe immer noch. Ich habe begriffen, ich werde vielleicht keine hohen Berge mehr besteigen können, ich fahre mit der Seilbahn rauf. Ich werde nie mehr alle Fenster hintereinander putzen, eines pro Tag reicht. Ich habe viel über Dankbarkeit gelernt. Jeden Tag bin ich meinem Körper dankbar, der mich trägt, der die Krebserkrankung mit mir zusammen gemeistert hat. Ich bin glücklich angesichts eines Sonnenstrahls, über die blühende Blume am Straßenrand, den Sternenhimmel in der Nacht. Das Leben ist schön, freuen wir uns darüber und sehen wir es nicht als selbstverständlich an. Seien wir dankbar und nehmen wir Krisen als Chancen, vielleicht bringen sie uns zu vollkommen neuen Ufern.

 

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