„Krankheit ist die Nachtseite des Lebens, eine eher
lästige Staatsbürgerschaft. Jeder, der geboren wird, besitzt zwei Staatsbürgerschaften, eine im Reich der GESUNDEN und eine im Reich der KRANKEN. Und wenn wir
alle es vorziehen, nur den guten Ruf zu benutzen, ist früher oder später doch jeder von uns gezwungen, wenigsten für eine Weile, sich als Bürger jenes anderen Ortes auszuweisen.“ Dies sind
wahre Worte von Susan Sontag, Krankheit als eine Metapher zu betrachten. Ein Vorwort aus: „Der König aller Krankheiten – Krebs eine Biografie“ von Siddhartha
Mukherjee.
Für die unter uns, die aus dem Reich der Kranken zurückkommen in das Reich der Gesunden, ist vieles verändert. Wir sind stellenweise nicht ganz hier und nicht ganz dort. Für viele von uns geht es
im DANACH aus dem Reich der Kranken, oft erst so richtig los. Das Verarbeiten des Erlebten steht an, Wunden müssen ausheilen, oft muss man sich mit einem veränderten Aussehen und Narben
anfreunden, sich von den Strapazen einer alles abverlangenden Therapie und vielen nachfolgenden Untersuchungen erholen, die einen immer wiederkehrenden Stress auslösen. Welch unendliche
Erleichterung einen durchströmt, wenn es nach einer Untersuchung heißt: „Es ist alles in Ordnung – Sie sind weiterhin gesund!“, können sich Nichtbetroffene nur schwer
vorstellen.
Das bedeutet nicht, dass die Zurückgekehrten unglücklich sind, ganz im Gegenteil. Viele schwer erkrankten Menschen, strahlen eine immense Lebensenergie aus, die ihnen vielleicht sogar manch einer
neidet oder glauben machen lässt, das wenn sie so Strahlen, das Ganze ja nicht so schlimm gewesen sein kann.
Viele der Zurückgekehrten erzählen, dass sie heute ihr Leben wesentlich bewusster erleben und mehr wertschätzen, als je zuvor. Auf der Seite der ANDEREN, kann das Leben somit
durchaus schön sein. Vielleicht gibt es ja noch ein drittes Reich Namens Mitte. Nicht ganz im Reich der Gesunden, nicht ganz im Reich der Kranken. Irgendwo im Grenzbereich von beiden!
Wo das Leben vielleicht intensiver schmeckt als drüben bei den GESUNDEN, der Wind einem spürbarer die Haut streichelt, Farben kräftiger leuchten und ein ehrliches Lachen, ein
kostbares Geschenk darstellen. Kleinste Fortschritte, Momente voller Schrecken, nachfolgender Schmerz, Glück und die Liebe zu Herzensmenschen, können das Herz ungebremst vor Glück und Wehmut
zerreißen. Immer wieder. Ohne Wenn und Aber!
Mancher Blick nach drüben auf die Seite der Gesunden, weckt Begehrlichkeiten nach normalen und vielleicht auch belanglosen Problemen und lassen dennoch an mancher Stelle ratlos zurück. Weil das
Leben für manch einen, der die Privilegien des Gesunden genießt, es oft so schwer für sich erlebt. Und erst wenn das Leben oder Schicksal brutal bei einem einschlägt, er dieses im Anschluss zu
schätzen versteht.
Warum erst dann und warum nicht häufiger schon jetzt? Das Leben ist doch so kostbar – auch wenn es einem nicht immer das schenkt, was man sich von diesem als Kind oder Heranwachsender wünschte.
Vielleicht ist die Unzufriedenheit der Gesunden mit ein Grund zu einem Kranken zu sagen: „Sieh das Ganze als Chance an!“ Als Chance wofür? Wie kann eine schwerwiegende Erkrankung, wie
beispielsweise Krebs, eine Chance sein? Wenn einem eine solche Erkrankung alles nehmen kann und in vielen Fällen auch wird, was einem lieb und teuer ist?
Wenn jemand eine grundlegende Erfahrung durchlebt, ganz gleich ob durch eine Erkrankung oder einen Schicksalsschlag, ändert dies seine Lebensweichen. Ganz zwangsläufig. Weil sich Risse und Brüche
in seiner bisherigen Lebensstraße auftun, die ihn dazu veranlassen werden, neue Wege zu gehen. Manche dieser Wege führen in eine Sackgasse, andere führen auf liebgewonnene Pfade zurück oder
zeigen neue Spuren auf, die man für sich erobern möchte. Nicht immer läuft alles glatt, manchmal verläuft man sich unterwegs. Dafür öffnen sich Licht durchflutete Lichtungen, die man auf seinen
alten Lebensstraßen vermutlich nie gesichtet hätte und begegnet inspirierenden Menschen. Auf diesen Wegen finden sich Kleinode, die einen reich beschenken. Vielleicht findet sich aber auch ein
großes Stück blauen Himmels, wogende Kornfelder, das Meer oder die Gipfel der Berge, die du so sehr für dich liebst – vielleicht eroberst du dir aber auch neue Lebensaufgaben oder kitzelst
ungeahnte, schlummernde Talente in dir wach. Denn du weißt für dich - nur das JETZT zählt und nicht das IRGENDWANN... Manchmal hingegen lässt man einen Teil von sich auf diesen neuen Wegen
zurück, weil er als zu belastend oder nicht mehr passend empfunden wird. Auch das kann passieren und einen mit Wehmut oder Erleichterung erfüllen...
All dies passiert
NICHT, weil eine schwerwiegende Erkrankung eine Chance für den Betroffenen darstellt, sondern weil dieser gezwungen ist, das Reich der GESUNDEN zu verlassen und sich in einem
fremden Land zurechtfinden musste. Manch einer der Zurückgekehrten schafft es mit allem was er für sich im Reich der KRANKEN erlebt hat nicht, sich im DANACH zurechtzufinden. Zu tief sitzen die
Verletzungen und die durchlittene Angst um einen selbst. Manchmal braucht dieser Mensch auch einfach nur sehr viel mehr Zeit, um zurückzufinden...
Ein Mensch, für den es kein Entrinnen aus dem Reich der Kranken gibt, lässt Stück für Stück seiner Identität zurück. Er hat nicht nur seine Gesundheit verloren und sieht sich unmittelbar mit
seiner Endlichkeit konfrontiert. Als vielleicht betroffener junger Mensch, musste er auf Grund seiner schwerwiegenden Erkrankung seine berufliche Tätigkeit aufgeben und hat dadurch oft mit großen
finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Auch Sorgen um Herzensmenschen, die man zurücklassen wird, können einen schwerkranken und sterbenden Menschen, psychisch schwer belasten. Viele
liebgewonnene Hobbys oder sportliche Aktivitäten, können zunehmend nicht mehr ausgeführt werden. Körperliche und mentale Fähigkeiten gehen unter Umständen verloren. Nicht immer helfen
Medikamente, um Schmerzen und Krankheitssymptome zu lindern. Und es ist leider keine Seltenheit, dass sich Freunde und Vertraute zurückziehen.
Je weiter eine Erkrankung voranschreitet, um so mehr ist ein Kranker gezwungen loszulassen. Alles was einem Lieb und Teuer ist. Stück für Stück, bis zum letzten Atemzug...
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Corinna (Sonntag, 23 September 2018 15:32)
Das ist ein Beitrag, der Einblick verschafft, hilft, zu verstehen...zu begreifen.