Kommunikation und Sprachlosigkeit

Fotograf Malte Joost
Fotograf Malte Joost

Mein Sohn Justin, wurde mit einer schweren Mehrfachbehinderung geboren, die sich in allen Bereichen seines Lebens mit unterschiedlicher Ausprägung zeigen. Wenn man meinen Sohn auf Bildern betrachtet oder ihm an öffentlichen Plätzen begegnet, wirkt er auf einen ersten flüchtigen Blick nicht weiter auffällig. In seinem Gesicht sind keine Fehlbildungen zu sehen, er wirkt aufmerksam und trägt beispielsweise nicht die Gesichtszüge eines Menschen mit Down-Syndrom, die meinen Sohn seinem Gegenüber auf den ersten Blick als einen Menschen mit einer geistigen Behinderung zeigen. Und doch ist er genau das neben seiner angeborenen körperlichen Behinderung: Geistig behindert.

 

Kürzlichst las ich bei einem jungen Blogger, der an einem Osteosarcoma erkrankt ist, dass es das Schlimmste im Leben sei, nicht mehr richtig laufen zu können. Ist es das Schlimmste nicht mehr richtig laufen zu können, fragte ich mich bei seinen Worten? Ich denke nein. Für den jungen Mann der am Beginn seines Weges steht und von eben auf jetzt aus seinem bisherigen Alltag gerissen wurde, mag die Vorstellung vielleicht nie mehr richtig laufen zu können, mit das Schlimmste sein.

 

Für mein Kind hingegen ist es vielleicht mit das Schwerste, über nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten der Kommunikation zu verfügen. Die Fähigkeit, Sprache erzeugen und verstehen zu können, ist ein hochkomplexer Vorgang. Dabei findet Kommunikation auf vielen Ebenen statt. Sowohl nonverbal, als auch verbal. Mit der Sprache entwickeln Kinder ihr eigenes Selbstbildnis. Justin selbst kann uns in vielen Bereichen des Lebens prima verstehen, aber es ist ihm nicht möglich, seine Geschichten, Erlebnisse und Gefühle, uns klar verständlich mitzuteilen. Da Justin zudem weder über die Fähigkeiten Lesen und Schreiben verfügt, ist er in diesem Bereich zusätzlich behindert.

 

Justin gezielt an eine Gebärden unterstützende Kommunikation (GuK-Karten: wurde urspünglich für Menschen mit Down-Syndrom entwickelt) heranzuführen wie sie in Lehrbüchern steht, ist mir und Justins Therapeuten nur bedingt möglich gewesen. Dabei ist unser beider Leben von einer intensiven Gebärden unterstützenden Kommunikation geprägt, über die ich mir selbst lange Zeit nicht einmal bewusst gewesen bin. Eine Logopädin hatte mich erst darauf aufmerksam machen müssen und gemeinsam versuchten wir über viele Jahre hinweg, Justin in dieser Richtung weiter zu fördern. Als Justin ab Herbst 2012 für vier Jahre ein 5-Tages Internat besuchte, wurde die Logopädie eingestellt, weil der Nutzen für ihn zu gering sei und der Aufwand in keinem Verhältnis zu seinen minimalen Fortschritten stand.

 

Wenn ich Justin bei seinen Unternehmungen begleite und er sich im Anschluss mit mir über seine Erlebnisse unterhalten möchte, kann ich seinen Erzählungen in seinem Sprachbild meistens gut folgen. Versucht er Anekdoten zu erzählen, bei dem ich ihn nicht begleitet habe, wird es schon schwieriger. Und manchmal ist es auch mir völlig unmöglich, ihn zu verstehen. Das macht uns beide traurig und die Tragweite ist so unfassbar groß, wie ihn sich nicht Betroffene kaum vorstellen können. Sprachlosigkeit macht hilflos. In solchen Momenten schauen wir uns manchmal tief traurig in die Augen und der Blick meines Sohnes, lässt mich innerlich zutiefst klein und demütig zurück.

 

Denn...

 

Sprache verbindet uns. Lässt uns wachsen und am Leben lernen. Unsere Fertigkeiten und Möglichkeiten entwickeln sich durch Kommunikation. Selbstständiges Handeln und Unabhängigkeit werden gefördert. Sie lässt uns miteinander in Kontakt treten und Beziehungen eingehen und pflegen. Wünsche und Bedürfnisse können mitgeteilt werden und so vieles mehr.

 

Sprache schenkt uns die Möglichkeit, für uns und andere einzutreten. In den letzten Jahren können wir uns zudem zunehmend weltweit miteinander verbinden und gemeinsame Ideen und Projekte entwickeln. Leider bringen wir Kommunizierenden es auch fertig, uns trotz umfassender Kommunikationsmöglichkeiten und vieler Worte, die wir tagtäglich miteinander austauschen, unserem Gegenüber nicht zuzuhören, weil wir es verlernt haben, uns aufeinander einzulassen. Sei es, weil wir uns die Zeit nicht nehmen oder unsere Emphatiefähigkeiten abstumpfen oder aus anderen vielfältigen Gründen. Der Faktor Einsamkeit in unser Gesellschaft nimmt scheinbar unaufhaltsam zu.

 

Für Justin kommuniziere ich mit vielen Menschen und fungiere oftmals als sein Sprachrohr. Ich falle auf, wo ich doch oft einfach nur still im Hintergrund stehen möchte. Ich übe mich tagtäglich auf dem schmalen Gradmesser, zwischen unterstützender Kommunikation und empfundener Bevormundung.


Die Sprache gleicht dem im Stein schlummernden Feuerfunken. Ehe man gelernt hatte, ihn hervorzulocken, schien sein Dasein nur durch ein Wunder erklärlich. Einmal entzündet, pflanzte er sich mit unglaublicher Leichtigkeit fort.

(Wilhelm von Humboldt)


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