Der Applaus ist längst vorbei. Manchen hat er nie gegolten...

Ich schwanke zwischen Zuversicht und aufkommenden Panikwellen, in denen ich mir Mut mache, dass ich DIESE SCHWIERIGE ZEITEN schon meistern werde. Ich übe mich im atmen, um nicht vor lauter Sorgen den Boden unter den Füßen zu verlieren. In den letzten Wochen habe ich an keinem Buch geschrieben, keine wertvollen Artikel oder Gedanken verfasst, weder groß an Projekten mitgearbeitet oder mich erfolgreich in neuen Hobbys ausprobiert. Ich versuche einfach nur mit allen derzeitigen Herausforderungen zurechtzukommen und praktikable Lösungen zu finden, mit denen wir bestehen können.
 
Im März wurde auf Grund der Coronakrise die Tagesförderstätte Justins geschlossen. Als voraussichtliche Öffnung, wurde der 20. April genannt. Mittlerweile ist diese noch immer bis auf weiteres geschlossen. Da ich bereits im März bei der Schließung eine Ahnung hatte, dass dies der Fall sein könnte, hab ich für Justin ab dem 04. Mai eine private Betreuung organisieren können, damit ich am Montag meinen neuen Job starten kann. Die Kosten werde ich zum größten Teil über Justins Verhinderungspflege und sein Pflegegeld bestreiten. Es ist ein fragiles Gerüst, dass ich mir konstruiert habe, um die kommenden Wochen und Monate bestehen zu können. Bricht mir ein Pfeiler weg, wird mein Kartenhaus in sich zusammenfallen. In dieser Art durchzuhalten, wird mir im besten Fall bis August möglich sein.
 
Am Donnerstag führte ich wiederholt einige Telefonate mit Behörden und Verantwortlichen, weil ich auf der Suche nach Lösungen bin. Zufriedenstellende Antworten habe ich keine erhalten. Man hat Verständnis für meine Situation. Ich hatte Verständnis für die Situation meiner Gesprächspartner, weil, es sind ja schwierige Zeiten, die wir in dieser Art noch nicht hatten. Es gibt keine einheitlichen Lösungen. Im Anschluss nach diesen Telefonaten, rollte am Donnerstag eine gigantische Panikattacke über mich hinweg. Weil, was passiert, wenn ich es nicht schaffe, uns über Wasser zu halten? In diesem Moment hab ich schwer mit mir gehadert, weil ich auf Unterstützung angewiesen bin, um unseren Alltag aufrechtzuerhalten. Weil ich auf der einen Seite nicht einfach nur zuhause bleiben und mich einzig um Justin kümmen, sondern weil ich mir unsere Existenz sichern möchte. Unser Stück Zukunft. MEINE Persepktive. In einer Zeit, in der so viele drohen ihre berufliche Existenz zu verlieren.
 
Vor zwei Tagen fand der 1. Mai statt. Der Erste Mai wird als Tag der Arbeit, Tag der Arbeiterbewegung, Internationaler Kampftag der Arbeiterklasse oder auch als Maifeiertag bezeichnet. Ich hab immer hart darum kämpfen müssen, trotz Justins Pflege und Betreuung arbeiten gehen zu können. Denn als Justins Mutter zähle ich zu der Fraktion der Mütter, die auf dem Arbeitsamt als nicht vermittelbar gelten. Auch wenn Justin bereits Volljährig ist. Vielen Müttern eines behinderten oder kranken Kindes, wird es sehr schwer gemacht, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Es fehlt für viele Frauen an alternativen Arbeitskonzepten. Und wenn sie es noch so sehr wollen. Unabhängig vom Ausbildungs- und Bildungsstand. Dennoch wird im gleichen Zug von ihnen erwartet, dass sie genau dies umsetzen, sobald sie HARTZ4 beantragen. Ich weiß wovon ich spreche. Ich hab das lange genug mitgemacht, um dies nicht zu wollen.
 
Behinderte Menschen, die in Wohnheimen leben, müssen ausreichend vor dem Virus geschützt werden. Darüber muss nicht diskutiert werden. Oftmals wurde den Mitarbeitern anfänglich nicht einmal entsprechendes Arbeits- und Schutzmaterial zur Verfügung gestellt, von verlässlichen Informationen ganz abgesehen. Es ist für ALLE ein Hangeln von Tag zu Tag, von Woche zu Woche. Eine immense Aufgabe, die ALLE Beteiligten vor enorme Herausforderungen stellt.
Ich kenne Eltern, die ihre erwachsenen Kinder rechtzeitig aus Wohnheimen zu sich nach Hause geholt haben, um sie besser vor einer Ansteckung des Virus zu schützen, und um ihnen eine wochen- und monatelange Trennung voneinander zu ersparen. Einer Trennung, die ihre Kinder kaum hätten bewältigen können, weil sie diese noch nicht einmal im Ansatz hätten verstehen können. Es fällt uns ja schon schwer. Viele ethische Fragen haben sich aufgetan, die kaum zu beantworten sind. Hinter denen sich manch unfassbar großes Leid verbirgt. Verborgen vor den Augen der Gesellschaft.
 
Unsere erwachsenen, schwer behinderten Kinder sind nicht in der Lage, selbstständig Sicherheitsmassnahmen zu beachten oder umzusetzen. Einen Mundschutz können viele nicht nutzen, MÜSSEN sie in der Öffentlichkeit auch nicht. Vielen von ihnen ist es nicht möglich, ihre Hände selbstständig und adäquat zu waschen oder einen ausreichenden Sicherheitsabstand zu ihren Freunden und Betreuern einzuhalten. Viele von ihnen, die erste Anzeichen einer Erkrankung verspüren würden, könnten diese zudem verbal nicht äußern. Sie alle zählen zur Risikogruppe.
 
Aber auch Menschen, die von ihren Familien zuhause versorgt werden, brauchen eine Perspektive und mit ihnen die Menschen, die sie versorgen. Mein persönlicher Eindruck ist, dass deren Lebenssituation in dem ganzen Chaos nicht ausreichend bedacht wurde.
Sie oder vielmehr WIR sind noch mehr durch das System gefallen wie die Menschen, die in einem Wohnheim leben. Dabei ist die Aufgabe, die Familien mit pflegebedürftigen Menschen derzeit stemmen, nicht kleiner geworden. Völlig unabhängig dessen, wie alt der Mensch ist, der versorgt und betreut werden muss. Mich erreichte in den vergangenen Wochen so manche verzweifelte Nachricht und Anrufe von alleinstehenden Müttern, die ähnliche Sorgen umtreiben. Für manch eine fand sich zwischenzeitlich eine Lösung. Viele müssen noch warten auf eine solche. Auch an mir gehen die Sorgen nicht spurlos vorbei. Und mein Sohn merkt mir an, dass ich mir Sorgen mache.
 
Es geht bei allem nicht darum, dass ich mir persönliche Auszeiten einräumen möchte. Ich bin es gewohnt, dass ich nur wenig Freiräume zu meiner Verfügung habe, die ich ohne meinen Sohn nutzen kann. Wir beide als kleine Familie, wünschen uns eine Perspektive. Aber vielleicht möchte ich einfach zuviel in diesen Zeiten, die unser aller Leben auf den Kopf stellt? Was verstehe ich schon von Politikern, die sich erst gegenseitig mit zunehmenden Einschränkungen überboten und nun versuchen sie auf schnellstem Weg abzubauen? Politiker, die auf Bildern ohne Schutzmasken zu sehen sind und ohne Sicherheitsabstand zueinander stehen? Es wurden weitreichende Entscheidungen getroffen, mit denen wir ALLE in der Gesellschaft zurechtkommen müssen. Existenzen drohen zu zerbrechen.
 
Ich kann nur von Glück reden, dass mein Sohn glücklich und zufrieden ist. Trotz allem. Er versteht zumindest so viel, dass viele Menschen krank sind oder drohen krank zu werden und wir deshalb eine Maske tragen, wenn wir einkaufen gehen. Das dies der Grund ist, dass er derzeit seine vertrauten Menschen nicht sehen kann. Auch wenn er sich sehr über seine Auszeit zuhause freut und sie genießt. Für morgen freut er sich sehr, dass ich arbeiten gehe und er Mama freie Zeit genießen darf. Der ersten Auszeit von mir seit März. Mit Musik und guter Laune. Und vielleicht einer kleinen Spazierfahrt in den Park Schönbusch. Bei offenem Fenster und laut singen und ganz viel guter Laune...
 
Ich kann nur hoffen, dass wir gesund bleiben. Unsere Freunde gesund bleiben. Das wäre LEBENSwertVOLL...
 
Ein Lösungsvorschlag an Politiker könnte sein: die Verhinderungspflege während der Krise zu erhöhen. Das würde mancher Familie helfen. Vergesst uns pflegende Angehörige bei euren Planungen BITTE nicht! Auch wir sind WICHTIG und leisten unseren Beitrag.

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