„Werden Sie bloß nie zu einer Pusteblume!“ legte mir die Frauenärztin ans Herz.
Bisher hatte ich eigentlich nur gute Erinnerungen an Löwenzahn. Als Kind bin ich durch die Wiesen gerannt und habe die Schirmflieger genüsslich in alle Richtungen verstreut. An diesem Tag nahm die Pusteblume eine deutlich düsterere Gestalt an. Die Frauenärztin sprach von den ganzen Metastasen, die im Körper meiner Mutter ihr Unwesen trieben. Meine Mutter war viele Jahre zuvor zum ersten Mal an Brustkrebs erkrankt. Plötzlich war alles wieder da. Nur viel schlimmer.
„Ich habe wieder Brustkrebs,“ sagte meine Mama ernüchtert am Telefon.
Dabei wurde kein neuer Knoten gefunden, sondern die Zellen von damals hatten sich heimlich, still und leise in ihrer Leber ausgebreitet ohne einen neuen Tumor zu bilden. Bei der Vorsorge war also nichts erkennbar. Erst als sie immer schwächer wurde kam nach etlichen Untersuchungen heraus, dass der Brustkrebs sie wieder eingeholt hatte.
„Brustkrebs ist doch heutzutage wirklich gut heilbar,“ hörte ich mich sagen.
Das letzte Mal hatte es meine Mutter ja auch gut überstanden. OP, Bestrahlung, Chemo und das Leben ging dann irgendwie wieder weiter. Meine Mutter hatte zwar immer Angst als der nächste Frauenarzt Termin näher rückte, aber je länger die Erkrankung zurück lag, desto mehr geriet das Thema Krebs in den Hintergrund. Besonders im Mai 2016, nur fünf Monate bevor ich bei der Frauenärztin verzweifelt im Sprechzimmer saß, hatte meine Mutter noch die Nachricht bekommen, dass nach so vielen Jahren nichts mehr zu erwarten ist.
„Ja, aber diesmal werde ich nicht mehr gesund.“ Eine ungemütliche Stille folgte.
Meine Mutter hatte ich das letzte Mal im Juli an ihrem 65. Geburtstag gesehen. Wir waren alle fröhlich durch Madrid geschlendert mit der Erwartung noch viele Geburtstage mit ihr zu feiern. Das nächste Mal sah ich sie im Oktober: sie saß im Rollstuhl, abgemagert und von Kopf bis Fuß gelb. Ihre Knöchel waren angeschwollen und ihr Bauch war aufgebläht, wie im letzten Trimester einer Schwangerschaft.
„Wie meinst du das denn jetzt?“ brachte ich schließlich über die Lippen.
Nichts hätte mich auf die nächsten Monate vorbereiten können. Eine Achterbahnfahrt zwischen Hoffnung, Verzweiflung, Kampf, Erschöpfung, Lachen, Weinen. Ich fing an Arztbriefe zu studieren, raste von Apotheken zu Arztterminen. Zwei Blutvergiftungen, viele Lungenpunktionen und eine Gürtelrose später hingen etliche Schläuche aus dem Körper meiner Mutter. Zwei für die Lunge, eines für die Flüssigkeit im Bauch und dann hingen natürlich Schläuche in der Nase um ihr beim Atmen zu helfen. Wo war meine Mutter nur geblieben? Der Körper, der noch übrig war, hatte nichts mehr mit dem zu tun, den ich noch vor einigen Monaten durch die Straßen von München schlendern gesehen habe.
„Ich bin wohl jetzt ein Fall für die Palliativmedizin.“ Pallia...was? Mit einem Stein in der Magengrube fing ich leise an im Internet zu stöbern.
Mit Ärzten hatte ich bisher wenig zu tun. Die Halbgötter in Weiß waren Freunde meiner Eltern und erzählten meistens lustige Geschichten. Ja, klar hat mir der Augenarzt eine Brille verpasst. Und mein Vater hat sich öfter mal das Bein gebrochen. Bei der ersten Erkrankung meiner Mutter wurde ich von Krankenhäusern soweit es ging ferngehalten. So langsam verstand ich auch warum. „Lohnt nicht“ – als Antwort auf die Frage ob meine Mutter wiederbelebt werden sollte, falls das Mal zum Thema wird. „Ihre Mutter (65) muss jetzt für jüngere Patientinnen Platz machen.“ Hatte ich da etwas verwechselt oder waren wir in einem der medizinisch fortschrittlichsten Ländern dieser Welt? Das waren keine Sätze, die ich von Ärzten erwartet hätte. Hatten die alle nicht kapiert, dass sie Menschleben retten sollen? ...und zwar gefälligst das von meiner Mutter?
„Ich habe eine tolle Ärztin in München gefunden...ich pack das nochmal!“ Meine Mutter klang entschlossen, ganz anders als noch vor ein paar Tagen. Na klar packt sie das!
An Silvester mussten wir meine Mutter wieder ins Krankenhaus bringen. Ihre Nierenwerte waren laut des Arztes „unterirdisch“. Tja, so ist das im Leben. Da denkt man die Leber ist kaputt und dann macht die Niere plötzlich nicht mehr mit. Die Feuerwerke knallten und wir saßen alle im Krankenzimmer zusammen. Meine Mutter kam nicht mehr aus dem Bett. Aber sie bestand darauf, dass wir im Sommer alle miteinander in den Urlaub fahren. Was sagt man jemandem, mit dem man bis vor kurzem Klamotten getauscht hat, in so einer Situation? Das 2017 ein sehr kurzes Jahr für sie werden wird? Was sagt man einer Person, die unbedingt leben, weiterkämpfen, bei der Familie bleiben möchte? Das die Feuerwerke ein letztes Mal für sie leuchten werden? Man lächelt. Denn die Hoffnung stirbt zuletzt...
„Hast du Angst?“ fragte ich meine Mutter. Es war der 3. Januar. Sie nickte. „Ich auch“ sagte ich.
Zum ersten Mal fließen vor ihr meine Tränen. Davor war ich vor ihr immer stark geblieben. Dann übernahm das System. Jemand, der ständig das Wort sterben benutzte, kam für Atemübungen. Und obwohl mir überhaupt nicht nach atmen zumute war, atmete ich wie ferngesteuert mit. Krankensalbung, der letzte Atem, Übernachtung im Krankenhaus mit einem reglosen Körper und offenem Fenster (und das, obwohl ich immer friere), Einladungen für die Beerdigung, Grab aussuchen...
„Ist es hier oder da drüben schöner?“ Ja, darüber macht man sich tatsächlich Gedanken...
„Nehm dir doch eine Weile frei“ war ein Ratschlag, den ich oft bekam. Frei nehmen war keine Option. Ablenkung. Arbeiten. Weinen. Schlafen. Wiederholen. Ein Jahr. Zwei Jahre. Dann plötzlich, entdeckte ich Pink Ribbon Deutschland im Internet. Stimmt. Ich könnte anderen ja vielleicht mit meiner Erfahrung helfen. Vielleicht war dann doch nicht alles umsonst. „Wir bräuchten eine Botschafterin für die Pink Kids. Das sind Teenager und junge Erwachsene, deren Mütter an Brustkrebs erkrankt oder verstorben sind. Wir helfen den Pink Kids durch diese schwierige Zeit.“
„Du bist nicht allein...“
sprechen die Pink Kids ins Mikrofon des Pinkcast, ein Podcast, den wir vor kurzem ins Leben gerufen haben. Die Pink Kids sprechen darüber, wie es ist, als junge Angehörige die Krankheit der Mutter mitzuerleben, öfter auch mit dem ein oder anderen prominenten Gast. Ein Thema, was in unserer Gesellschaft oft noch nicht genug thematisiert wird. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie wichtig es ist sich mit Gleichgesinnten auszutauschen, die Geschehnisse zu verarbeiten und gemeinsam positiv in die Zukunft zu blicken.
Die Schauspielerin Vanessa Eichholz, Botschafterin für die Pink Kids, findet ihr über die beigefügten Links auf Instagram.
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