Worüber niemand spricht: Wenn pflegende Angehörige an Krebs erkranken

Fotografin Jenny Klestil
Fotografin Jenny Klestil

Aktuell gibt es in Deutschland circa 2,9 Millionen Menschen, die pflegebedürftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes SGB XI sind (Quelle: Pflegestatistik Bund 2015 des Statistischen Bundesamtes). Tendenz steigend. Etwa 3% von ihnen sind Kinder und Jugendliche bis zu einem Alter von 15 Jahren.

Rund vier von fünf Pflegebedürftigen in Deutschland werden zu Hause versorgt. Meist erfolgt die Pflege durch Angehörige, die bei Bedarf durch einen ambulanten Pflegedienst entlastet werden, was wiederum auf das Pflegegeld angerechnet wird. Manche Betroffene können zudem die Möglichkeit eines persönlichen Budgets nutzen.

In Berechnungen geht man davon aus, dass es aktuell circa 4,8 Millionen pflegende Angehörige gibt. Unter ihnen auch wieder Jugendliche, die ihre Eltern, Geschwister oder Familienangehörige mit versorgen. Der überwiegende Teil von 70% der pflegenden Angehörige sind Frauen, die sich nicht selten parallel um die Kinderbetreuung kümmern. Etwa 2,5 Millionen pflegende Angehörige, sind zudem erwerbstätig.

Aus einem von der Barmer Ersatzkasse verfassten Pflegereport von 2015 geht hervor, dass die durchschnittliche Pflegedauer für alle Altersgruppen bei 6,7 Jahren liegt. Bei durchschnittlich 4,4 Jahren liegt die Pflegedauer bei den Menschen, die ab einem Alter von mindestens 60 Jahren pflegebedürftig werden. Das bedeutet, dass der überwiegende Teil der pflegenden Angehörigen diese zusätzlichen Aufgaben für einen begrenzten Abschnitt in ihrem Leben übernehmen, wobei es auch hier Mehrfachbelastungen geben kann, weil beide Elternteile Unterstützung benötigen oder aber beispielsweise Schwiegereltern mitversorgt werden müssen.

Justin, der von frühester Kindheit an auf Pflege und Betreuung angewiesen ist, fällt vor allem aus der letzten Statistik heraus, da er von Geburt an schwer- mehrfachbehindert geboren wurde und Zeit seines Lebens auf Betreuung und Pflege angewiesen sein wird. Bislang sind das 26. Lebensjahre. Dies bedeutet auch, dass ich seit 26 Jahren eine pflegende Angehörige bin. Zudem bin ich alleinstehend, die überwiegende Zeit berufstätig und meine überstandene Krebserkrankung hat bis heute ihre Spuren an meiner Gesundheit hinterlassen. Ich trage die Hoffnung, dass in mir noch für einige Jahre die Kraft ruht, meinen Sohn weiterhin versorgen zu können und ihm sein Zuhause bewahren zu können.

Wenn das Leben alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist!

 

Als ich an Krebs erkrankte hieß es aus meinem familiären Umfeld, dass nun der Moment gekommen sei, dass ich mein Kind in ein Heim geben sollte. Ich entschied mich dagegen und nutzte alle Unterstützungsmöglichkeiten die mir angeboten wurden und die für uns sinnig erschienen, um diese schwierige Zeit gemeinsam zu überstehen. Justin war damals dreizehn und selbst noch immer traumatisiert von umfassenden Operationen an beiden Beinen aus den davor liegenden Jahren. Wie hätte ich ihn weggeben sollen? Mein Herz, mein Ein und Alles...

 

Seit meiner Kindheit bin ich mir darüber bewusst, dass mein Leben endlich ist, und somit auch das meines Sohnes. Statistisch betrachtet werde ich diejenige sein, die zuerst stirbt und nicht die Person sein werde, die meinen Sohn in seinen letzten Lebensjahren bis in seinen Tod begleiten wird. Das ist ein Gedanke, der viele Eltern eines behinderten Kindes ängstigt - ich weiß leider nur zu gut, wie bitter und heiß dieses Gefühl der Unsicherheit schmeckt, welches für mich alles andere als ein hypothetisches Gedankenkarussell geblieben ist. Denn wer kümmert sich um ihn trotz aller getroffenen Vorsorgen, wenn es mir selbst nicht mehr möglich sein wird? Noch dazu hält der Pflegenotstand und Personalmangel auch nicht vor den Türen von entsprechenden Pflegeheimen, Einrichtungen und Co. für behinderten Menschen an. Traurige Tatsache ist, dass bereits jetzt viel zu viele behinderte oder schwerkranke junge Menschen in Altersheimen notversorgt werden und man ihnen und ihren Bedürfnissen nicht gerecht werden kann. Die Realität vieler behinderter Menschen, vor allem für Betroffene mit einem hohen Pflegebedarf und/oder bei geistiger Behinderung, entspricht noch lange nicht den Grundlagen der Behindertenrechtskonventionen oder dem Gedanken einer selbstverständlich gelebten Inklusion. Dieses Thema begegnet uns Tag für Tag und stellt uns immer wieder vor neue Herausforderungen.

 

Justin erobert die Herzen. Das ist eines seiner großen Lebenstalente, für welches ich sehr dankbar bin! Denn sein Talent macht es ihm, aber auch mir vieles leichter...

 

In den Jahren mit meinem Sohn wurde und wird uns bis heute viel Mitgefühl entgegen gebracht, für das ich sehr dankbar bin. Auf der einen Seite war ich jung an Krebs erkrankt und dann noch dazu Mutter eines Sohnes, der auf unfassbar viel Unterstützung, Pflege und Betreuung in seinem Leben angewiesen ist. Mittlerweile gilt das Mitgefühl wieder weniger wegen meiner überstandenen Erkrankung, sondern schlicht und ergreifend, weil mein Sohn behindert ist.

 

... und doch bin ich für viele die, die mit dem Brustkrebs und dem behinderten Kind!

 

Im Jahr mit meiner Erkrankung und im Leben nach Krebs, war ich für viele auf Grund unserer besonderen Lebenssituation "anders"! Aber glaubt ihr wirklich, dass ich als pflegende Angehörige und Mutter eines behinderten Kindes, die an Krebs erkrankte, tatsächlich solch eine Rarität bin? Die traurige Tatsache ist, dass ich es tatsächlich nicht bin. Man spricht nur nicht über unseren Personenkreis, weil er schlicht und ergreifend keine Lobby findet. Selbst unter den verschiedensten Fragestellungen habe ich keine Statistik gefunden, die dieses Thema aufgreift. Es wird in keinem Panel oder Diskussionsrunde für an Krebs erkrankte Menschen und ihre Angehörigen besprochen und findet sich in keinem Ratgeber. Manchmal findet man in einem Frauenmagazin einen seltenen Artikel, der eine pflegende und erkrankte Angehörige vorstellt. Aber ansonsten? Nichts!

 

Dabei gibt es uns! Und wir sind mehr, als es sich viele vorstellen können. In den letzten Jahren habe ich nicht nur eine von uns getroffen, dabei immer zutiefst berührt, wenn sie sich mir anvertraute. Frauen mit den unterschiedlichsten Biografien und Erkrankungsstadien. Pflegende Angehörige wie ich, die sich um ihre behinderten Kinder oder pflegebedürftigen Familienmitglieder kümmern. Trotz oder mit ihrer Erkrankung. Sie werden vor zusätzliche Entscheidungen gestellt, die unfassbar viel Mut, konsequentes Handeln und nicht selten einen zusätzlichen Wust an Behördengängen erfordern. Neben und mit ihrer Erkrankung. Ich möchte nicht wissen, wie viele von uns gnadenlos auf diesem Weg untergehen und nicht die Unterstützung erhalten, die sie oder wir, jetzt nochmal so dringend benötigen.


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