Shared-Decision-Making auf Augenhöhe für Justin

Jenny Klestil Photographie
Jenny Klestil Photographie

Gerade wenn es um die Gesundheit eines schwerbehinderten Angehörigen geht, ist jede Entscheidung ein Balanceakt zwischen Verantwortung, Emotion und medizinischer Notwendigkeit. Denn als pflegende Angehörige treffe ich wichtige Entscheidungen ÜBER oder vielmehr FÜR das Leben meines Sohnes, der diese nicht für sich selbst treffen kann. Und ja, es sind die schwersten Entscheidungen meines Lebens, die ich treffe.

 

Wenn ein Arzttermin zur Belastungsprobe wird

 

Im Mai begleitete ich Justin zu einem Beratungstermin in eine kieferorthopädische Praxis, die wir in den letzten Jahren immer wieder aufgesucht hatten. Sein rechter Schneidezahn hatte sich im letzten Jahr zunehmend verschoben und ich wollte wissen, ob das mit seiner zerebralen Tetraspastik oder mit den Weisheitszähnen zusammenhängen könnte? In der Praxis wurde ein einfaches Röntgenbild erstellt und ich war so stolz auf ihn, dass er die Prozedur so gut mitmachte.

 

Doch was dann kam, überrollte mich. Die Ärztin wischte meine Sorge ab. Spöttisch fragte sie mich, wie ich nur glauben könne, dass ein „kleiner Weisheitszahn“ die Kraft haben könne, andere Zähne derart zu verschieben? Stattdessen zeigte sie auf das Röntgenbild und sprach von einem „großen Problem“. Sie sprach von einer Kieferzyste, drohendem Zahnverlust und einer möglichen Kiefernekrose. Anhand des nicht aussagefähigen Röntgenbildes, empfahl sie ein 3D-Röntgenbild, welches direkt in der Praxis durchgeführt werden könne und eine kostenpflichtige Selbstzahlerleistung sei. Doch mein Sohn konnte das notwendige Mundstück nicht mit seinen Zähnen umschließen und den Anweisungen nicht folgen, weil er zunehmend verunsichert war. Ohne ein weiteres Gespräch wurde uns im Anschluss eine Überweisung von einer medizinischen Fachangestellten für ein Kopf-CT in einer Radiologie mit den Worten in die Hand gedrückt: „Wenn Sie die Bilder haben, können Sie wiederkommen.“

 

Mit einer niederschmetternden Diagnose, die mehr Fragen aufwarf als Antworten gab, verließen wir die Praxis. Ich fühlte mich hilflos, ohnmächtig - und ich war wütend. Selten habe ich mich derart beschämt gefühlt, weil Justin geistig behindert ist, wie in dieser Praxis. Und ich fühlte mich meinem Sohn gegenüber unfassbar schuldig, weil ich mögliche Schmerzen oder Beschwerden seinerseits nicht erkannt oder fehlinterpretiert hatte.

 

Selbsthilfe 2.0

 

In meiner Verzweiflung wandte ich mich an ChatGPT. Und fand verständliche Erklärungen, hilfreiche Hinweise und eine erste Orientierung. Ich konnte Lösungswege prüfen und planen. Hätte ich das Röntgenbild digital zur Verfügung gehabt, hätte ich es für eine Beurteilung hochladen können. Vermutlich hätte ich mir dadurch viele Sorgen ersparen können.

 

Nach über 24 Stunden Recherche, Telefonaten und Mails fand ich schließlich Hilfe an der Uniklinik Frankfurt, Fachabteilung der Mund;- Kiefer,- plastischen Gesichtschirurgie. Denn anhand der Überweisung zu einem Kopf-CT und der Behinderung meines Sohnes – fand ich keine passende Anlaufstelle für ihn. Weder in einer Radiologie, noch in einer zahnärztlichen Praxis. Denn weitere bildgebende Verfahren, können bei meinem Sohn auf Grund seiner geistigen Behinderung nur unter Narkose erfolgen.

 

Shared Decision Making auf Augenhöhe

 

Der Arzt an der Uniklinik warf einen Blick auf das Röntgenbild, welches im Mai erstellt werden konnte und fragte ruhig: „Können Sie mir bitte sagen, welche Zyste ich behandeln soll? Ich sehe bei Ihrem Sohn eine klassische Weisheitszahnproblematik?“

 

In diesem Moment fiel eine große Last von mir. Es liegt weder ein Notfall vor, noch eine Kiefernekrose und kein daneben liegender Zahn der gezogen werden muss, weil er bereits angegriffen sei. Aber: Die Zähne müssen raus, um Folgeschäden zu vermeiden. Dabei wird auch eine kleine Follikelzyste an einem der Weisheitszähne entfernt, die bei nicht durchgebrochenen Weisheitszähnen nicht ungewöhnlich ist. Dazu braucht es auch kein weiteres Röntgenbild und schon gar kein CT oder ähnliches, erläuterte mir der Arzt. Verständlich erklärt. Auf Augenhöhe. Ich erzählte dem Arzt von dem Gespräch in der anderen Praxis. Daraufhin telefonierte er in meinem Beisein mit der Ärztin in Aschaffenburg, die die fatale Einschätzung abgab und gab mir zum Abschluss unseres Gesprächs die Empfehlung mit auf den Weg, schriftliche Beschwerde gegen die Ärztin einzureichen.

 

Den Termin für die Operation vereinbarte ich direkt bei ihm. Gerade weil ich mich von dem Arzt so kompetent beraten und abgeholt fühlte. Denn die Operation selbst hätten wir auch in einer Zahnarztpraxis vor Ort vornehmen lassen können.

 

Justins OP-Tag in der Tagesklinik

 

Letzte Woche Mittwoch wurde Justin in seiner ersten Sommerferienwoche operiert. Unter Vollnarkose. Justins Termin wurde für 10.00 Uhr angesetzt. Aber wie es manchmal so ist, mussten wir warten. Gegen 11.00 Uhr kündigte sich bei Justin durch Kaltschweißigkeit und einer veränderten Atmung, eine Panikattacke an. Ich zögerte nicht lange und bat eine medizinische Fachkraft um ein leichtes Beruhigungsmittel. Sie versprach, sich direkt mit der Anästhesistin zu besprechen. Wenige Minuten später holte sie uns vom Warteflur in die Tagesklinik, wies Justin ein Bett zu und bat mich, ihn zu entkleiden und ihm ein OP-Hemd anzuziehen. Sobald er soweit war, wurde er separiert von den Kindern und deren Eltern, in den Aufwachraum für Kinder geschoben – mit mir in seinem Bett, damit er weniger Angst aushalten musste. Denn das war der Tipp von einer der Pflegefachkräfte: „Legen Sie sich mit dazu. Das wird ihm am meisten helfen. Ich schiebe Sie gemeinsam rüber!“

 

Als nächstes erhielt Justin Dormicum und beruhigte sich daraufhin rasch. Kurze Zeit später kam die Anästhesistin zu uns und legte Justin zur Einleitung für die Narkose einen Zugang. Das hat super geklappt, auch, weil ich Justins Hand mit einem Emla-Pflaster zur Betäubung vorbereitet hatte und ihm das Legen dadurch weniger weh tat. Geklappt hat es erst beim dritten Mal. Intern wurde es bereits soweit besprochen, dass ich Justin auf Grund seines frühkindlichen Autismus weitestgehend begleiten konnte. Das hieß, dass ich Justin bis zur Einleitung der Narkose in die OP-Schleuse begleiten durfte und später auch im Aufwachraum für Erwachsene. Gegen 13.30 Uhr wurde Justin dann von einer weiteren Anästhesistin und zwei Anästhesisten abgeholt und in meiner Begleitung in einen Vorraum der OP-Schleuse gerollt. Über seinen Zugang wurden ihm erste Medikamente gespritzt, unter anderem Propofol. Ich half dann noch dabei, Justin vom Bett auf eine fahrbare Trage umzubetten, ehe ich mit einem letzten Blick auf meinen bereits bewusstlosen Sohn, den Raum verließ. Und am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre.

 

Und dann hieß es warten. Insgesamt ausgerechnet hatte ich eineinhalb Stunden Wartezeit. Auch wenn es heißt, es sei eine Routineoperation – für uns ist es das nicht. Und vielleicht ist es an manchen Stellen im Leben auch nicht immer von Vorteil, wenn man so viel weiß und sich eben auch darüber bewusst ist, was alles schief gehen kann? Aber damit muss ich umgehen.

 

Kleine Gesten, die so viel bewirken können

 

Zwischendurch kam die erste Anästhesistin an meinem Platz vorbei und rief mir im Vorbeigehen zu: „Es läuft wunderbar!“, und gegen 15.00 Uhr folgte die junge medizinische Fachkraft aus dem Kinderaufwachraum, die mich auf dem Weg in ihren Feierabend darüber informierte: „Die OP ist erfolgreich verlaufen und Ihr Sohn wird schon bald aus dem OP geschoben!“

 

Aber noch hieß es auf ihn warten, bis ein Facharzt gegen 15.30 Uhr bei mir Halt machte und mich fragte, ob ich die Mutter von Justin sei? Er hätte ihn operiert und die Operation sei komplikationsfrei verlaufen. Die beiden unteren Zähne mussten an ihren Wurzeln gekappt werden, damit sie gezogen werden konnten. Die Follikelzyste wurde ebenfalls vollständig entfernt. Zudem haben sie nicht nur den zweiten Schneidezahn an einer Abbruchstelle geglättet, worum ich im Vorfeld gebeten hatte, sondern auch seine beiden aufgebauten Frontschneidezähne geschliffen für ein angenehmeres Mundgefühl und ästhetischeres Gesamtbild. Sein Gesicht wird anschwellen, was zu erwarten gewesen sei. Die kommenden Tage nur Breikost, damit die Wunden gut verheilen können. „Und Kompliment an Sie: Ihr Sohn hat außerordentlich gut gepflegte Zähne! Alles Gute für Sie beide!“.

 

Kurz darauf wurde ich in den Vorraum der OP-Schleuse gerufen. Justin noch völlig benebelt von der Narkose, frierend, das Gesicht bereits verschwollen, Lippen und Zähne mit Blut benetzt. Gemeinsam mit dem OP-Team bettete ich Justin von der Trage wieder in sein Krankenhausbett. Von dort aus ging es über einen Flur direkt in den Aufwachraum für Erwachsene und wieder durfte ich Justin begleiten, bis er soweit stabil war, dass er in die Tagesklinik verlegt werden konnte. Dort begannen wir mit der Kühlung des Gesichts und er ließ sich ein erstes Wassereis schmecken. Als er soweit stabil war, dass wir die Klinik verlassen konnten, hieß es, dass es zum Abschluss noch ein Röntgenbild braucht und wir dann nach Hause fahren können. Gegen 20.30 Uhr waren wir müde und geschafft, endlich wieder zuhause in Aschaffenburg.

 

Die folgenden Tage heißt es weiterhin: ausruhen, kühlen, Suppen, Breikost und kühlendes Eis. Justins Antlitz in den ersten Tagen war eine kleine Herausforderung, wurde aber von Tag zu Tag besser. Was für ein Glück, dass ich am Abend vor der OP noch daran gedacht habe ihn zu rasieren, dass wird die nächsten Tage weiterhin nicht möglich sein. Und gestern, am Samstag, lachte er auch zum ersten Mal wieder. Noch ein paar Tage und seine Wunden werden verheilt sein.

 

Warum erzähle ich das jetzt alles?

 

Zum einen, weil es alles andere als selbstverständlich ist, wie wir in der Uniklinik Frankfurt aufgenommen wurden, wofür ich zutiefst dankbar bin. Niemand machte abfällige Bemerkungen über Justins Behinderung. Stattdessen wurde spürbar darauf geachtet, dass es ihm – und damit auch uns, die in diesem Moment die medizinische Verantwortung für ihn trugen – so leicht wie möglich gemacht wurde. Der Stress wurde auf ein Minimum reduziert und das mit einer Selbstverständlichkeit, die wohltat. Eigentlich sollte ich der Aschaffenburger Ärztin dankbar sein, die uns menschlich derart mies auflaufen ließ. Aber das bin ich nicht. Denn sie hat etwas grundsätzliches im Umgang mit hilfesuchenden Menschen nicht verstanden: Augenhöhe. Menschliche und fachliche Kompetenz! Denn wer Menschen in Ausnahmesituationen begleitet, trägt Verantwortung – nicht nur für Diagnosen, sondern auch für Aufklärung, aufkommende Fragen zu beantworten, Therapieoptionen aufzuzeigen und - einen respekt- und würdevollen Umgang!


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